Großer Streit herrschte über den Einfluss der Wirtschaft auf die Bologna-Reform, die verzwickte Gestaltung der Curricula und die Mitsprache der Studenten.

Foto: Standard/Urban

Wien - "Wir haben eine große Grube ausgehoben, obwohl wir erst dabei sind, die Pläne zu zeichnen. Von Hausbau ist noch keine Spur" , zieht Simon von der Arbeitsgruppe Mittwoch eine Bilanz der letzten zehn Jahre. Als Sprachrohr der Audimaxisten bezog sich der Architekturstudent der TU Wien ausnahmsweise nicht auf ein Gefüge aus Beton, Glas und Stahl, sondern auf eines aus Curricula, Mobilität und ECTS-Punkten.

Das Werken an der Hochschulreform war Thema beim Uni-Talk: "Baustellen und Chancen - was bleibt nach zehn Jahren Bologna?" Dass es in einige Fenster des unfertigen Hauses stark hineinzieht - in diesem Punkt waren sich die Diskutanten einig, die sich am 25. Februar unter der Moderation von Tanja Traxler (UniStandard) im Neuen Institutsgebäude der Uni Wien einem gar nicht einsilbigen Publikum stellten.

"Mit dem Begriff Baustelle hab ich als Sohn eines Baumeisters eine sehr gute Konnotation" , beginnt der Generalsekretär des Wissenschaftsministeriums Friedrich Faulhammer. Hier sei aber einiges passiert, das nicht im Sinne der Baumeister gelegen sei.

"Das Fundament ist gelegt", sagt Ilse Schrittesser. Die Uni-Wien-Professorin für Bildungswissenschaften sieht viele Probleme eher als "Nebeneffekte". Wie etwa "handwerkliche Fehler" bei der Studienplan-Entwicklung: Man habe versucht, achtsemestrige Diplomstudien in sechssemestrige Bachelors zu zwängen. "Gewisse Eigendynamiken sind selbst durch Steuerung in einem so breiten Prozess nicht zu verhindern."

"Das hat im Grunde nichts mit Bologna zu tun", stimmt Faulhammer zu. "Dieses Schlagwort muss für vieles herhalten." In einer "falsch verstandenen Begeisterung für die Autonomie der Unis bei der Curricula-Gestaltung" habe man das Machbare aus den Augen verloren. ÖH-Bundesvorsitzende Sigrid Maurer sieht darin durchaus ein strukturelles Problem: "Durch fehlende Koordinierung hat jede Uni ein eigenes System gebaut." Untereinander seien sie völlig inkompatibel, wodurch Mobilität erst recht nicht gegeben sei.

Eine Publikumsstimme unterstützt: "Studiere ich den Bachelor Volkswirtschaft an der Uni Wien, bin ich nicht einmal so mobil, mit der Straßenbahn sieben Stationen auf die Wirtschaftsuni zu fahren, um dort Wahlfächer zu machen."

"Wir hatten die Aufgabe, ein weitgehend funktionierendes Haus zu demontieren und ein neues zu errichten. Während des Umbaus musste es funktionieren. Seit Fertigstellung sind die Betriebskosten jährlich zu senken", schildert Hans Sünkel, Präsident der Österreichischen Universitätenkonferenz, die Umsetzung von Bologna. Diese Transformation sei durchaus erreicht worden. Aber: "Durch die Euphorie hat ein Über-das-Ziel-hinaus-Schießen stattgefunden." Man habe viele verzweigte Master in die Landschaft gesetzt, zu stark auf schmale Märkte fokussiert, sich zu sehr in Richtung Fachhochschule gelehnt.

Die vor Bologna wunderbar funktioniert habende Uni sei ein Mythos, kontert Schrittesser. Was das eigentliche Abkommen betrifft, "zwingt Bologna sicher nicht zu dem Weg, den es genommen hat" , spricht die Bildungswissenschafterin von der Frage, die entscheidend sei, nämlich "ob sich die Uni selbstbewusst auf ihre Kernkompetenz, die Vermittlung vonWissen, konzentriert oder ob sie sich verbiegen lässt, um möglichst verwertbare, flexible Individuen auf den Markt zu werfen." Sie sei optimistisch und glaube an Ersteres.

"Smaller, faster, cheaper", so lauteten die Wünsche der Industrie bezüglich der Uni-Ausbildung, sagt Sünkel kritisch. Die Idee der Bildung frei von Konkurrenzdruck und ökonomischen Zwängen hält er jedoch für "paradiesisch" und wenig sinnvoll: Sich im Wettbewerb zu bewähren solle man schon auf der Uni lernen.

Von "konstruiertem Wettbewerb um die besten Köpfe" spricht hingegen Maurer. Bologna und andere Strategie-Papiere setzten die Unis in ein Konkurrenz- statt Kooperationsverhältnis. "Dieses Denken muss raus aus den Hirnen."

Bologna stresst

"Der Studierendensozialbericht zeigt, dass sich psychische Belastung und Depression verschlimmern. Ich finde es eine Zumutung, dass Sie sich darüber lustig machen, wenn wir Studieren ohne Leistungsdruck fordern" , wird Sünkel von einem Zuhörer adressiert.

Doch auch konkrete Verbesserungen wurden aufs Tapet gebracht: "In Österreich sprach man von Forschungsleistung und Lehrbelastung" , erinnert sich Sünkel. Bologna habe die Lehre aufgewertet. Faulhammer hob "die soziale Dimension" hervor. In manchen der 46 teilnehmenden Länder seien erst durch den Bologna-Prozess Stipendiensysteme entstanden.

Ein Schein von Autonomie

Ein Begriff, der öfters fiel, war jener der "Scheinautonomie" . "Jeder putzt sich am anderen ab" , kritisiert Simon. "Das Ministerium sagt, die Uni muss autonom entscheiden, die Unis sagen, es gibt Leistungsvereinbarungen, sonst gibt's kein Geld." "Theoretisch haben wir ein hohes Maß an Autonomie" , sagt Sünkel, praktisch stoße man aber rasch an den Rand der Ressourcen. "Die Autonomie hätte mehr Potenzial, wenn sie finanziell besser unterfüttert wäre."

"Wessen Autonomie?" sei die Frage, sagt Maurer. "Wenn die Unis autonom wären, sprächen Faulhammer und Sünkel nicht nur vom Rektorat. Wir Studierende sind der Schlüsselfaktor im Prozess" , fordert die ÖH-Chefin studentische Mitsprache ein. Öl ins Feuer der Wut warf der angesprochene TU-Graz-Rektor Sünkel, als er meinte, die Uni sei ein sehr komplexes Gefüge, und Studierende sollten gehört werden, aber nicht unbedingt "in große strategische Überlegungen eingebunden werden" .

"Es geht darum, die Themenführerschaft nicht der Wirtschaft zu überlassen" , kündigt Simon eine Großdemo zum Jubiläumsgipfel von 11. bis 13. März an. Im Rahmen dessen werden die Bologna-Architekten in der Wiener Hofburg Rat und Ball abhalten. In Workshops wollen die Protestierenden außerdem eine eigene Deklaration formulieren. Maurer stimmt zu: "Bologna kann eine Chance sein, wenn wir es zu unserem Prozess machen." (Julia Grillmayr, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.3.2010)