Wien - Gute Miene zu bösem Spiel, so lautet scheinbar die Devise zum zehnjährigen Jubiläum von Bologna. Praktisch überall stößt die Reform in ihrer Umsetzung auf herbe Kritik und Proteste. Unter Studierenden und Uni-Lehrenden, aber auch Rektoraten und Ministerien konstatiert man eine breite Unzufriedenheit. Der Prozess ist zu einem System geworden, dessen Notausgänge unauffindbar sind.

"Es ist schon interessant, dass auf individueller Ebene beinahe jeder sagt: 'Um Himmels Willen, was haben wir uns da angetan', es aber keine gravierende Gegenbewegung gibt", wittert Manfred Füllsack, Sozialwissenschafter der Uni Wien, festgefahrene Bologna-Strukturen.

Sind solche Prozesse erst ins Rollen gekommen, sei es oft so, dass die Bremse nicht mehr gezogen werden kann.

Es ist eine Spirale, in der die Akteure dahinflottieren - unbeholfen sucht man die Schuldigen für die passierten Patzer. Die Unis berufen sich auf Unterfinanzierung, Zeitdruck und fehlende Koordinierung, das Ministerium darauf, dass die Hochschulen 2002 in die Autonomie entlassen wurden. "Ich habe keine Möglichkeit, in die Studienplanerstellung einzugreifen", zieht sich Wissenschaftsministerin Beatrix Karl aus der Affäre.

Scheinautonomie

Eine zentrale Schnittstelle, wo die Politik an den Uni-Strukturen noch mitreden kann, sind die Leistungsvereinbarungen - doch der Geldhahn öffnet sich nach teilweise ungewollt absurden Prinzipien (siehe U 6). Die universitäre Selbstverwaltung wird zur Basis zum Hin- und Herschieben von Verantwortung. Der Vorwurf der "Scheinautonomie" steht im Raum.

Vom politischen Einfluss befreit, schlitterten die Hochschulen nämlich direkt in die nächste Abhängigkeit, jene des Marktes, sagt Bildungswissenschafter Erich Ribolits. Dahinter stecken keine "bösen Akteure", erklärt der Uni-Wien-Professor. Es handle sich vielmehr um eine "Systemlogik, die wir alle bis zu einem gewissen Grad verinnerlicht haben". Sich dieser zu entziehen falle schwer.

"Bei so vielen Beteiligten gibt es große Dynamiken und Zwänge", will auch Füllsack nicht von dunklen Absichten sprechen.

Bologna hat sich also in gewisser Weise verselbstständigt. Das passiere in einem größeren gesellschaftlichen Kontext: "Die Bologna-Erklärung trägt diesen Geist der Wirtschaftsfreundlichkeit in sich", meint Ribolits.

Und die Stricke ziehen sich zusammen: "Ein System in Schwierigkeiten, wie denen der aktuellen Krise, wird noch rigider. Es muss seine Logik noch stärker verwirklichen." So werde es immer schwieriger einzugreifen.

Daniela De Ridder vom deutschen Centrum für Hochschulentwicklung sieht das anders: Die breite Diskussion beweise, dass Kritik möglich sei. Sie habe im deutschen Hochschulwesen keine Entdemokratisierung der Strukturen erfahren. "Wenn innerhalb einer Uni die Kommunikation nicht funktioniert, wird schnell diskutiert, die Leitung abzuwählen. Das sind keine Einzelfälle mehr", erzählt sie. Die "Führungsform von unten" sei nicht zu unterschätzen.

Tellerrand

Dennoch: Den Blick selbstbewusst über den System-Tellerrand zu werfen, darin sieht Ribolits die große Schwierigkeit. Er illustriert dies anhand der Forderungen der Studierenden-Proteste die "über die Systemgrenzen hinausweisen". Als unrealistisch beurteilte man etwa das Begehr nach "Bildung statt Ausbildung", bezeichnete es mit dem Verweis auf Konkurrenzdruck und Arbeitslosigkeit als "geradezu frivol". (Julia Grillmayr/DER STANDARD, 04.03.2010)