Jedes Haus ist zumindest optisch ein Gefängnis. Im Bild eine Mauer mit Glasscherben oben drauf. Mehr Fotos in der Ansichtssache.

Foto: Mirjam Harmtodt

Sobald die Tür ins Schloss fällt und mehrfach verriegelt ist, beginnt die Freiheit hier in Natal. Denn nur wenn Tür und Tor geschlossen sind, ist man sicher. Für ihre Sicherheit geben die Menschen hier ein Vermögen aus. Den Schutz ihres Eigentums lassen sie sich sogar mehr kosten, als ihre Gesundheit, in die sie nicht so viel Geld investieren wie in diverse Einrichtungen zur Bewachung von Haus, Hof und Auto. Tatsache ist, dass der ganze Aufwand wegen der hohen Kriminalität in Brasilien leider notwendig ist, auch wenn die "Natalensen" lieber darauf verzichten würden. Der Unterschied zwischen arm und reich ist groß, Einbrüche und Raub stehen auf der Tagesordnung. Ich stoße in Natal auf zwei Welten - eine hinter und eine vor den Mauern.

Slalom in Natal

Dem Auto werden, zumindest in dieser Stadt, sehr viel Raum und annähernd perfekte Straßen zugestanden. Als Fußgänger hat man eher schlechte Karten, als Rollstuhlfahrer bleibt man am Besten gleich zu Hause. Ein Spaziergang durch Natal ist ein Slalom durch Müllhaufen, Bauschutt und Baumschnitt und führt über die verschiedensten, mehr oder weniger geschmackvoll ausgewählten Designs von Bodengestaltungen. Der private Wohnraum reicht bis zur Straße was bedeutet, dass jeder Hausbesitzer auch den Meter vor seinem Haus zu gestalten hat. Dem entsprechend wechselt das Gehsteigdesign zwischen purem Luxus mit englischem Rasen und verdrecktem Sand.

Wohnen im Knast

In der Regel geht man entlang von Mauern, die ebenfalls sehr individuell in Höhe und Design sind - ein Fleckerlteppich der Hässlichkeit. Oben drauf kommen dann noch spitze Metallplatten, Glasscherben oder Stacheldraht. Seit einigen Jahren verwendet man auch Hochspannungsleitungen, die rund um die Mauer geführt werden und aus jedem Haus, zumindest optisch, ein Gefängnis machen.

Die modernen Wohnblocks, die dank blühender Immobilienspekulationen wie Schwammerl aus dem sandigen Boden schießen, verfügen über einen Wachturm mit Aufpasser, der nur Hausbewohner passieren lässt. Besuch muss sich anmelden. Verdächtig erscheinende Personen - und das ist so ziemlich jeder, der zu später Stunde durch die Straßen schleicht - werden der Polizei gemeldet, die unter Garantie innerhalb von fünf Minuten vor Ort ist.

Jede Nacht fahren Männer auf Motorrädern Patrouille durch die Straßen und geben seltsame Laute von sich, von denen ich in der ersten Nacht dachte, es sei ein extraterrestrischer Riesenfrosch. Diese Signale sollen aber zum einen versichern, dass kontrolliert wird, und zum anderen potentielle Einbrecher abschrecken. Natal ist übrigens eine der sichersten Städte in Brasilien, der darum auch eine besonders hohe Lebensqualität zugesprochen wird.

Mein Haus, mein LCD, meine Hängematte

In der privaten Welt macht man sich das Leben so angenehm wie möglich. Des Brasilianers liebste Kinder sind das Auto - vorzugsweise ein SUV -, der LCD-Fernseher, der Riesenkühlschrank und das Notebook. In den modernen Appartements der Hochhäuser ist ein Gemeinschaftspool obligat, dazu gibt es einen Grillplatz zum "Churrasco" machen, der äußerst beliebten Grillerei in Brasilien. Der Fernseher ist am Morgen das erste Gerät das in Betrieb genommen wird und er bleibt es, bis man entweder die Wohnung verlässt oder schlafen geht. Wichtig sind auch noch diverse Ventilatoren und Hängematten. Jedes Zimmer hat Haken in den Wänden, an denen diese "Reds" montiert werden können, vorzugsweise vor dem riesigen LCD-Schirm.

Konsum oder Leben

Die öffentliche Welt ist lange nicht so luxuriös. Beispielsweise kommen jeden Tag zwei Buben im Alter von ungefähr neun und zehn Jahren in einem Eselkarren in die Straße, wo wir während unserer Zeit in Natal wohnen, und sammeln den Müll aus den Hochhäusern ein. Sie laden die Säcke auf ihren Karren, verschnüren die Ladung und ziehen von dannen. Ihre Eltern, so vermutet Fabio, der sich seit Jahren mit den "Catadores" - den brasilianischen Müllmenschen - beschäftigt, werden später die Säcke öffnen, den Inhalt sortieren und verwertbares wie Aluminium, Papier und Kunststoffe an weiterverarbeitende Firmen verkaufen. Die Konkurrenz ist groß. In Natal mit fast 800.000 Einwohnern leben rund 600 Menschen vom Müll sammeln und sortieren. Die staatliche Müllentsorgung funktioniert kaum oder gar nicht, Sammelstellen gibt es quasi nicht. Wer etwa Problemstoffe zu entsorgen hat, schüttet das Gift ins Rinnsal oder schmeißt es zum Restmüll.

Es ist laut, staubig und dreckig draußen vor der Tür. Und gefährlich. Wer zu Fuß geht ist selber schuld. Die Fahrt mit dem Autobus ist nur für Touristen wie mich lustig, für die Natalensen ist es ein Albtraum ohne Klimaanlage und ohne Fahrplan, der darüber hinaus auch noch teuer (rund ein Euro kostet die Fahrt) und schmutzig ist. Neben den normalen Bussen gibt es auch noch Minibusse, die grundsätzlich mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Straßen poltern - auch der Markt des öffentlichen Verkehrs ist heiß umkämpft. Fahrpläne existieren nur in den Köpfen der Leute, Haltestellen sind nicht als solche erkennbar und es kann durchaus vorkommen, dass ein Bus einfach nicht stehen bleibt. Dafür kann es aber auch passieren, dass ein Fahrer an einer Ampel die Tür für einen Fahrgast öffnet und ihn einsteigen lässt oder extra stehen bleibt, um jemanden aussteigen zu lassen. Man nimmt das alles nicht so genau hier.

An allen Ecken liegt Müll, die wenigen öffentlichen Plätze sind ungepflegt und gefährlich, wer Kultur sucht, sucht lange. Die wenigen historischen Gebäude wurden in Zuckerlblau, -rosa und -gelb angepinselt. Das Straßenbild ist geprägt von Shops, Läden, Autowerkstätten und Apotheken, die Bier verkaufen. Daneben gibt es diverse Standln mit Essen und Getränken.

Ich werfe mich jetzt ins Abenteuer öffentlicher Raum und begebe mich auf meinen Slalom durch die Stadt. Ziel: Churrascinho. Es ist Freitag, Grilltag. (Mirjam Harmtodt, derStandard.at, 9.3.2010)