Claus Guth: "Jede Oper hat ein eigenes Kraftfeld. Im Idealfall geschehen die Dinge von alleine und haben dabei eine Logik."

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Standard: Ich wurde einmal zufällig Zeuge, als Sie von Nikolaus Harnoncourt gefragt wurden, warum man heute unbedingt immer Revolver auf der Bühne haben müsse. Das war 2005 am Rande Ihrer gemeinsamen Festwochen-Produktion von Mozarts "Lucio Silla" , also noch vor Ihrem Da-Ponte-Zyklus bei den Salzburger Festspielen. Was war denn Ihre Antwort?

Guth: Ich glaube, das war und ist für Harnoncourt ein Allergiethema, das für ihn fast ein Synonym für das moderne Regietheater in seiner abgegriffenen Form ist - wobei er ja grundsätzlich ein sehr neugieriger und offener Mensch ist. Insofern habe ich das ernst genommen. In diesem Fall war es einfach für mich in diesem Ambiente und Genre die logische Konsequenz, dass eine Bedrohung in dem zeitlichen Umfeld, das wir gezeigt haben, eben ein Revolver ist. Ich bin aber auf anderer Ebene seiner Meinung. Ich bin kein Verfechter der Ansicht, Musiktheater sei nur dann modern, wenn es aussieht wie das Jahr 2010. Denn das wäre wieder abgegriffen, und ich versuche Gegenbeispiele zu liefern. Das wird man beim Tannhäuser erleben können.

Standard: Man erlebt es ja oft, dass Theater über Äußerlichkeiten wie Bühnenbild und Requisiten wahrgenommen wird und weniger über die tatsächliche Regiearbeit, über das dramatische Geschehen.

Guth: Da gibt es eine ganz katastrophale Verwirrung der Kategorien. Man ist leicht von optisch modern oder abstrakt erscheinenden Dingen dazu verführt zu glauben, dass da etwas Frisches oder Anderes passiert. Ich erlebe immer wieder, dass das in 80 Prozent der Fällen eine Mogelpackung ist. Da passiert letztlich szenisch teilweise dasselbe wie in 50 Jahre alten Inszenierungen - und die sind oft noch handwerklich besser gearbeitet. Das regt mich manchmal richtig auf, weil es relativ selten ist, dass ich bei meinen - zugegebenermaßen seltenen - Opernbesuchen ein Niveau erlebe, wo mit Darstellern so wie im Schauspiel gearbeitet wird. Gerade von den dominanten Schauspielregisseuren erlebe ich in der Oper selten Auseinandersetzungen mit der Aura eines Stückes, sondern eher eine optische Aufpolierung.

Standard: Heißt Aura, dass es Ihnen um mehr als das Handlungsgerüst des jeweiligen Stücks geht?

Guth: Um es einmal ganz radikal zu formulieren: Manchmal nutze ich den Moment, wenn ich ein Stück kaum oder nicht kenne, dass ich mir es anhöre, nicht mitlese und froh bin, wenn ich nur wenig Text verstehe - und rein den musikalischen Impetus auf mich wirken lasse. Die Erlebnisse, die ich hier habe, versuche ich mir später immer wieder in Erinnerung zu bringen, weil ich denke, dass ich nur über die Musik den wirklichen Echolot in ein Werk versenken kann. Der komplizierteste Teil meiner Arbeit ist es immer, für mich herauszufinden, was die Gesetzmäßigkeiten sind, unter denen das ganz spezifisch Eigene dieses Stückes am besten zum Tragen kommt. Daraus resultieren die formalen Antworten von Bühnenbild und Regiestil, die dann extrem weit auseinandergehen können. Da versuche ich für jedes Stück eine eigene Lösung zu finden. Aber mein Reagieren hat im Idealfall damit zu tun, die emotionale Wirksamkeit eines Stückes an die Oberfläche zu bringen. Oft haben sich ja in der Aufführungstradition Verkrustungen gebildet, die scheinbar zur Wahrheit geworden sind.

Standard: So etwas infrage zu stellen löst Widerstände aus.

Guth: Manchmal erstaunlich wenig. Wenn man da sozusagen einen Treffer hat, legt man eine Energiequelle frei, die sich idealerweise auf das Publikum überträgt, auch wenn es sich am Visuellen oder an visuellen Details stört. Aber die Grundkraft einer Arbeit wird doch oft bemerkt.

Standard: Klingt nach Magie.

Guth: Ja - auch wenn ich bei Gott kein Esoteriker bin, würde ich doch behaupten, dass jede Oper ein eigenes Kraftfeld hat, an das man herankommt oder eben nicht. Das spürt man selber, oder das spüren auch Sänger bei einer Probe ganz stark. Dann passieren im Idealfall die Dinge von alleine und haben dabei eine Logik.

Standard: "Tannhäuser" ist ein mehrschichtiges Gefüge, wo Zauber eine wichtige Rolle spielt. Lässt sich das für Sie in den Beziehungen der Personen unterbringen?

Guth: Vieles von diesem Zauber erklärt das Stück quasi von selbst. Gleich zu Beginn singt Tannhäuser: "Oh, dass ich nur erwachte!" Für mich ist gleich der Einstieg in das Stück, der Venusberg, kein Ort, sondern ein Zustand eines Menschen, der sich von der Gesellschaft distanziert hat und dem in einer Art Nirwana-Außenposition die Grenze zwischen Fantasie und Realität verschwimmt, für den sich dort eine Art Tunnelblick in das Unbewusste auftut.

Beziehungen zu Menschen erlebt man bei Tannhäuser am stärksten zu Elisabeth - einer Frau, die sich über ihrem Oheim sehr von der Gesellschaft bestimmen lässt, die gefangen ist im Funktionieren, die Tannhäuser letztlich nicht daraus herauslösen kann; und sein Versuch, sich wieder in dieser Gesellschaft zu bewegen, misslingt ja ganz offensichtlich.

Standard: Steht dahinter, weil wir ja in Wien sind, ein Konflikt zwischen Es und Über-Ich, wie Sigmund Freud gesagt hätte?

Guth: Weil wir in Wien sind, um damit die Katze aus dem Sack zu lassen: Ich nehme das Phänomen Tannhäuser in Wien ganz konkret. Bei mir spielt es um 1900 in Wien, der Zuschauer begegnet für das damalige - und auch noch heutige - Wien symptomatischen Orten, die für mich auch für die Tannhäuser-Geschichte symptomatisch sind. Da gibt es im ersten Akt das Hotel Orient, wo eine Doppelmoral gelebt wird, wo ein zweites Leben jenseits dessen stattfindet, was man dann im zweiten Akt als Moral verkündet. Im zweiten Akt wird man sich in der Staatsoper im Schwind-Foyer bewegen, als einem Ort der Repräsentation; und im dritten Akt beschäftige ich mich mit dem Thema Wahn in Wien, mit Steinhof. Es gibt ja die romantische Tradition des Borderliners, der in Konflikten zerrieben wird und sich nirgends mehr einparken kann. Auch für diese Phänomene ist das Wien dieser Zeit typisch. Das Funktionieren einer Gesellschaft über ihre Verteilung auf Orte finde ich ein interessantes Phänomen - und das erlebe ich in Tannhäuser sehr stark. (Daniel Ender/DER STANDARD, Printausgabe, 16. 6. 2010)