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Die Buhlschaft muss auch 2010 fotografiert werden: Birgit Minichmayr und Jedermann Nicholas Ofczarek.

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Wann darf sie gehen. Wann darf sie weg. Wann darf die Buhlschaft von der Bühne und so aus ihrer doppelten Sexarbeit wieder ins Privatleben zurück. Hoffmannsthal regelt ihren Auftritt im Jedermann. Von der Bühne holt er die Buhlschaft nicht mehr. Dem Text folgend, kann sie auf Seite 40 abtreten, wenn es heißt "Es flüchten viele" . Sie kann sich bis Seite 52 Zeit lassen und mit den letzten davonlaufen, die sich noch an der Tafel gütlich tun. Sie könnte auch bis zum Schluss bleiben und dem Jedermann zusehen, wie er so freundlich von zwei anderen Frauen begleitet ins Grab steigt. Sexarbeiterinnen können nämlich keine Antworten auf die "endgültigen Fragen" geben.

Sexarbeiterinnen erfüllen ihre Aufgabe, und dann können sie vergessen werden. Das ist der Deal. Denn. Das Ganze ist ein Deal. Der ganze Jedermann ist geschäftlich zu denken. Jede Struktur ist ein Handel gegen eine andere Struktur. Jede Figur bringt eine kleine Summe von Sinneinheiten auf die Bühne, die in der Gesamtrechnung der Jedermannfigur verbucht wird. Das geht vollkommen mechanistisch vor sich. Alle Nebenfiguren zusammen ergeben in einer einfachen Buchhaltung von Gut und Böse die Hauptfigur. Dieses Gut und Böse tritt in Figuren auf, die von Schauspielern und Schauspielerinnen den Körper erhalten, und es sind ausschließlich diese Körper der realen Schauspieler und Schauspielerinnen, die einen Sinnzusammenhang herstellen. Herstellen können. Die Körper der Schauspieler und Schauspielerinnen schaffen eine Quasi-Realität, die dem Text überhaupt erst Bedeutungsmacht erteilt.

Dieses Leihen des Körpers. Das ist die Arbeit des Schauspielers und der Schauspielerin. Immer ist es die Anwesenheit der Person hinter der dargestellten Figur, die die Realität herstellt. Das Spielen einer Figur. Das ist gewollte Lüge. Gewollte Täuschung. Das ist ein vereinbarter Vorgang. Das Theater Lessings betritt diese Vereinbarung in dem Wunsch, über diese gespielte Auseinandersetzung zwischen Figuren, die gerade vorliegenden Verhältnisse von Macht und Ohnmacht zu untersuchen. Das Theater Lessings dringt auf immer individualisiertere Figuren, an denen diese Verhältnisse je realistischer nachgestellt und damit gesellschaftliche Konflikte offengelegt werden können. Es sind bestimmte Figuren in bestimmten Zusammenhängen, die dann die bestimmte Schlussfolgerung ermöglichen. So geht Aufklärung.

Das Leihen des Körpers

Im Jedermann. In der Personifikation von "menschlichen" Eigenschaften geht der Autor vor das Theater Lessings zurück. Der Rückgriff aufs Mittelalter verdeckt den Rückschritt weit vor die Aufklärung. Für die Aufführung bedeutet das, dass der Schauspieler und die Schauspielerin als sie selber auftreten müssen und wie mittelalterliche Schausteller die jeweilige Eigenschaft vertreten. Das ist eine andere Form des Sich-Leihens. Es gibt nicht das Spiel mit der Figur und einer Wiederaufführung von Leben. Im Jedermann wird zur Schau gestellt, und der Körper ist die Landschaft dieser Ausstellung. Der Körper des Schauspielers und der Schauspielerin wird für die Darstellung in Geiselhaft genommen. Eine hölzerne und ritualisierte Aufführungspraxis tut dann ein Weiteres dazu. Es liegt darin ein planes Ausbeutungsverhältnis vor, das die totale Unterwerfung unter den Text verlangt und keinerlei Eigenanteil zulässt. (Das knallende Furzen des einen Teufels gegen das eher verhaltene Gasentweichen der nächsten Teufelsdarstellung zählt da nicht.) Weil das in Salzburg sehr gut bezahlt wird, muss es nicht als solches wahrgenommen werden. Und. Weil alle mittlerweile in solchen Arbeitsverhältnissen leben, in denen sie keine Gestaltungsräume mehr vorfinden, sondern sich nach den Codes von Markteroberungsstrategien und Effizienz bewegen müssen. Weil das Mittelalterliche in den, die Personen insgesamt erfassenden Abhängigkeitsverhältnissen des Arbeitsmarkts so offenkundig ist.

Die Uraufführung des Jedermann im Zirkus Neumann 1911 bestätigt dieses feudale Arbeitsverhältnis in der Aufführung. Zirkus. Das ist die sprachlose Schaustellung der grotesken Möglichkeiten der Körper von Menschen und Tieren gegen Bezahlung. Im Jedermann wird das zum Zirkus des Tods und der Rettung.

Es müsste also nicht ums Geld gehen, um im Jedermann das Zentralstück einer hochkapitalistischen Volksmission zu erkennen. Die Ebene des Texts und die intendierte Aufführung dieses Texts. Die Strukturen dieses Theatertexts selber fungieren als Instrumente der Ausbeutung.

Abhängigkeitsverhältnisse stellen sich über Spiegelungen dar. Die Herrschaft des Jedermann zeigt sich an der Abhängigkeit des armen Nachbarn oder des Schuldknechts. Die kapitalistische Herrschaft wird in der quasi mittelalterlichen Spracherfindung von Hoffmannsthal schön anmetaphorisiert und gleichzeitig stramm argumentiert.

Jedermann: "Geld ist wie eine andere War, das sind Verträg und Rechte klar."

Der Gesell sekundiert: "Wär schimpflich um die Welt bestellt, wenns anders herging in der Welt."

Die Knechte wissen es immer noch ein bisschen genauer als die Herrn, und der Schuldknecht hat sich eben verspekuliert. Der Schuldknecht muss seine Medizin nehmen. Das ist der Deal. Der Schuldknecht argumentiert ja auch nur im System und pocht auf Barmherzigkeit und nicht auf Veränderung. Oder gar Grundrechte.

In diesem Kosmos des Besitzs wird der Gebrauch an anderen in der Übertragung von Besitz ausgedrückt. Wenn wir gleich zu Beginn erfahren, dass die Buhlschaft einen Lustgarten zum Geschenk bekommen soll, dann freuen wir uns. Die Buhlschaft wird so vielleicht zu einer Versorgung kommen. Sie kann den Garten ja immerhin wieder verkaufen und so ihr Leben bestreiten, nachdem sich der Herr Jedermann zu einer Heirat nicht bequemt. Vielleicht will die Buhlschaft ihn auch gar nicht. Wir wissen ja nicht, welche Angebote noch vorliegen. Zwar wird der Jedermann als der Reichste weit und breit beschrieben, aber das wird von liebedienerischen Angestellten gesagt und gilt damit nur in der inneren Logik dieser Unterwerfungen.

Die Buhlschaft bekommt gerade so viel Raum in diesem Stück, dass das Publikum ihrer gewahr werden kann. Sie ist das blühende Leben gegen die Blässe des Tods. Es ist ja ihr Fest. Sie bringt die Musiker mit und die Begleitung. Wie jede geübte Hostess beruhigt sie den, ob des Altersunterschieds unsicheren Jedermann und lobt seine "milden Hände und seinen steten Sinn" . Immerhin kann sie sich nicht auf seine feurigen Lenden beziehen. Das fiel dem Autor nicht ein. Es ist ein eher laues Getändel, das da abläuft. Aber es geht ja nicht um eine leidenschaftliche Wirklichkeit. Es geht ja eigentlich nur darum, dass Jedermann nicht verheiratet ist.

Die Buhlschaft stellt also im Grund nur den ledigen Jedermann dar. Es geht nicht um einen heißblütigen Platzhirschen. Es geht nicht um einen Buhlen, der seiner Lust ungehinderten Lauf verschafft. Nein. Die Mutter Jedermanns beklagt es. Es geht um den Unruhefaktor "lediger Mann" . Das immerhin ist wirklich mittelalterliche Katholizität. Der lange Weg der Zivilisierung des Mannes erfolgte über die Monogamisierung und deren Verrechtlichung in den kirchlichen Ehegesetzen. Das beschreibt auch den langen Weg der Zivilisierung in den europäischen Kapitalismus. Die Versammlung des Vermögens auf rechtlich anerkannte Erben von einer jeweils einzigen Frau und der Ausschluss der Priester aus einer solchen Erbmöglichkeit durch das Zölibat.

Es hat das alles zu den Jedermanns geführt. Eine Buhlschaft ist da die reine Illustration des Wildlaufens eines solchen Burschen. Am Ende ist das ja auch die einzige vorführbare Sünde. Hätte Jedermann rechtzeitig und standesgemäß geheiratet, es wäre uns seine Bekanntschaft erspart geblieben. Dem Gott des Anfangs ärgert ja nur die Tatsache, dass die Jedermanns "schmählicher hinleben als das Getier" und sich in den Buhlschaften ihre Lust verschaffen, ohne die katholische Uraufgabe des Kinderzeugens in der Monogamie zu erfüllen.

Die Buhlschaft ist so eine Art Dekoration von Jedermanns Burschenleben, der sich trotz Hab und Gut nicht in die Gesellschaft einordnet. Sie wird von Jedermann beim Bankett gefragt, ob sie ihn bis ins Grab hinein begleiten würde, und die Buhlschaft gibt sehr vernünftige Antworten. Was der Autor als ihre Minderwertigkeit beschreiben will. Als die Oberflächlichkeit einer minderen und dazu noch weiblich minderen Person, das lesen wir heute als sehr vernünftiges Verhalten in einer schlimmen Abhängigkeitssituation. Die Sexarbeiterin hat ihr Honorar zu bekommen.

Schlimm genug, dass das offenkundig von der Gestimmtheit des Herrn Jedermann abhängig ist, und wir atmen erleichtert auf, dass sie ihm so nett schmeichelt, wenn sie die jungen Liebhaber so beiseiteschiebt. Eine professionelle Haltung zeigt sich in dieser Buhlschaft, die ja keine Eigenschaft darstellt, sondern ganz in der Logik der Anlage des Stücks ein Objekt ist.

Eine professionelle Haltung

Alle Frauen in diesem Text sind Objekte Jedermanns. Die Buhlschaft ist das erste Objekt seines Begehrens, das über den Lustgarten beschrieben wird, den sie zum Geschenk bekommen soll.

"In diesem Gärtlein köstlich und mild, ihr eigen abgespiegelt Bild. Die allzeit liebreich mich ergetzt, mit Hitz und Schattenkühl mich letzt. Und einem verschlossenen Gärtlein gleich, den Gärner selig macht und reich."

Das sagt Jedermann zum Gesellen, der den Garten kaufen gehen soll. Jedermann ist durch das Moralisieren seiner Mutter die Lust vergangen. Die Mutter hat auch gar zu viel vom Sterben gesprochen. In einem Theaterschauspiel würden wir vermuten, dass die Mutter einen Todeswunsch hat, der ihren Sohn miteinschließt, und wir könnten interessante Schlüsse auf die Figur ziehen. In diesem Zirkus der Verkörperungen erübrigen sich feinfühlige Fragen. In einem solchen Stück werden Auftritte erfüllt. Und die arme Buhlschaft. Sie wird durch die weiblichen Objekte eines spirituellen Begehrens ersetzt. Die Werke und der Glaube. Beide Begriffe werden durch Frauen verkörpert. Die Personifikation der Werke werden durch Jedermann zum Leben erweckt. Die Werke sind ein spiritueller Filter, und es bleiben nur gute Werke im Sinn der ankatholisierten Spiritualität dieses Stücks hängen. Die weibliche Hässlichkeit und Schwäche der Personifizierung der Werke auf der Bühne ist ein Spiegel Jedermanns.

Wir müssen daraus schließen, dass Moralität weiblich ist und die Buhlschaft der amoralische Kontrapunkt dazu. Die alte Geschichte von der Heiligen und der Hure wird da nachvollzogen. Oder besser. Diese alte Geschichte wird vorausvollzogen. Denn. Durch die Anlage in einem ungefähren Mittelalter wird ja alles, was da so gesagt wird, als in sehr viel früheren Zeiten Gesagtes behauptet. Ein geschlechterstiftender Mythos, wie der von der Hure und der Heiligen. Der wird damit neuerlich als vergeschichtlicht behauptet und bekommt so eine nette und neuerliche Erfrischung aus dieser behaupteten Geschichtlichkeit. Diese Behauptung wird ja in der Theateraufführung in die vorgelebte und unmittelbare Realität dieser Aufführung zur Wirklichkeit gemacht. So war das, wird dem Publikum vermittelt. Das ist Ideologisierung vom Allerbesten. Ein Idealtypus von Ideologisierung ist das.

Der Kapitalist Jedermann bleibt dem folgend auch in seinem Tod allen kapitalistischen Prinzipien treu. Darin natürlich kümmert ihn die Buhlschaft nicht mehr. Die Buhlschaft findet nicht eimal mehr in den Bühnenanweisungen Platz genug, von der Bühne geholt zu werden. Jedermann versucht es erst konventionell und verlangt von seinen Abhängigen die Begleitung ins Grab hinein. Die Idee, dass diese Frau wie eine indische Witwe mit ihm ins Grab soll, diese Idee scheitert an der Verachtung von dieser Frau. Oder besser. Diese Idee scheitert an der Selbstverachtung des Männlichen, das die Verstärkung durch Männliches zu seiner Sicherheit benötigt. Nachdem die Gesellen und Vettern abgesagt haben und das Geld die Machtverhältnisse umbenannt hat, kapitalisiert Jedermann seine Verfehlungen. Obwohl. Wir wissen ja von keiner größeren Verfehlung. Der Teufel zählt zwar einige auf, aber konkrete Kunde bekommen wir nicht. ("Konkrete Kunde" . Dieser tümelnde Kauderwelsch an Sprachvermutungen Hoffmannsthals färbt sofort auf den Leser und die Leserin in unsäglicher Weise ab und führt zu solchen Formulierungen.)

Wir hören keine konkrekte Anklage Jedermanns. Es gibt kein ordentliches Gerichtsverfahren. Die Gewalten sind nicht voneinander getrennt. Jedermann ist lange vor der Französischen Revolution situiert und kann in Geständnisse zerfließen. In diesen Geständnissen vollführt Jedermann die von ihm verlangte Einordnung. Jedermann fügt sich in die verlangte Unterwerfung, und die beiden Frauen und seine Mutter freuen sich. Jedermann bringt seine Unterwerfung in den Tauschhandel ein und befriedet damit den Gott des Eingangsmonologs, der ziemlich grantig eine Art spiritueller Steuerprüfung abhalten will, weil man nicht so lebt, wie es ihm gefällt. Ein recht lächerlicher Gott ist das. Ein Zirkusgott halt.

Die Buhlschaft. Eine Schauspielerin wird immer nach ihrem Körper gemessen. Diese Messung wird sexistisch sein. Es gibt ja keine andere Sichtweise des weiblichen Körpers in der Öffentlichkeit als die Messung von attraktiv und nicht attraktiv. Attraktivität setzt voraus, dass Begehren aufgerufen werden kann. Sexuelles Begehren wird durch die jugendlichen sekundären Geschlechtsmerkmale angeregt. Deshalb muss die Buhlschaft ihren Busen so weit wie möglich entblößen. Und sie muss jung sein. Die Buhlschaft muss nämlich fotografiert werden und mit dem Bild der jeweiligen Schauspielerin als Darstellerin der Buhlschaft die Verbreitung der Bilder von einem solchen Stück betrieben werden.

Die Attraktivität der Schauspielerin wird in der Darstellung der Buhlschaft zur Attraktivität dieses Ereignisses gesteigert. Wir könnten auch sagen, dass diese Attraktivität wieder die Personifikation dieses Ereignisses darstellt und damit in einem doppelten Bogen die Darstellung der Sexarbeiterin Buhlschaft im Foto der Darstellerin der Buhlschaft eingesetzt wird. Je nach Blickwinkel wird ein solcher Einsatz Karriere genannt werden können. Oder ganz einfach sexistisch.

Pflichterfüllende Beifügung

Die Wahrheit ist, dass Karrieren wahrscheinlich nur sexistisch zu machen sind. Je nach Geschlecht und der damit verbundenen, kulturell fixierten Attraktivität. Deshalb hoffe ich, dass die Buhlschaft eine höhere Gage bekommt als der Darsteller des Jedermann. Die Buhlschaft muss sich schließlich in einer ganz anderen Weise zu Verfügung stellen. Das kann sie nur eine begrenzte Zeit. Die Darstellung von Geschlecht ist auf Jugendlichkeit beschränkt. Ich hoffe auch, dass die Buhlschaft so früh wie möglich von der Bühne kann und in aller Ruhe ein kühles Bier trinken. Oder was immer.

Die Buhlschaft kann auch aus dem Stück gestrichen werden. Sie taucht in dieser Männerwelt ohnehin wie eine pflichterfüllende Beifügung auf. Es genügte, es würde über ihre Bezahlung geredet werden. Dann müsste sie nicht gesehen werden. Die Gage sollte sie trotzdem bekommen, und offizielle Fotos werden im Rollkragenpullover gemacht. Dann könnte uns diese unsägliche Veranstaltung des Jedermann vielleicht einen Schritt weiterbringen. Einen winzigen. Eine Bewusstmachung. Und die schöne junge Schauspielerin könnte eine andere Rolle in aller Ruhe studieren. Oder eine Umschulung machen. Wie alle Sexarbeiterinnen und ihre Darstellerinnen hat sie das Recht auf Bildung. (Marlene Streeruwitz, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 24./25.07.2010)