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Zuhause reden mutistische Kinder häufig extrem viel, so als hätten sie Nachholbedarf.

Hamburg - Knapp eine dreiviertel Million Kinder werden am Ende des Sommers in Deutschland eingeschult. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) unter 1.000 Eltern von schulpflichtigen Kindern sitzen statistisch gesehen in jeder Klasse zwei Kinder mit AD(H)S, dem so genannten Zappel-Philipp-Syndrom. Die betroffenen Kinder fallen auf, weil sie hyperaktiv sind und Probleme haben, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren. Eher unauffällig, und daher bisher auch kaum bekannt, ist dagegen der selektive Mutismus, eine psychische Störung, bei der die Kinder konsequent schweigen, berichtet der deutsche Online Pressedienst humannews. Experten schätzen, dass mindestens sieben von 1.000 Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter an der Sprechhemmung leiden, da Mutismus aber oftmals mit Schüchternheit verwechselt wird, ist die Dunkelziffer vermutlich noch wesentlich höher.

"Schüchterne Kinder sind in ungewohnten Situationen ebenfalls oft gehemmt, im Gegensatz zu mutistischen Kindern entscheiden sie sich aber bewusst für die Zurückhaltung, während Kinder mit selektivem Mutismus unbewusst auf stumm schalten. Zuhause reden mutistische Kinder dagegen oftmals extrem viel, als hätten sie Nachholbedarf. Deshalb fallen Eltern oft aus allen Wolken, wenn sie von Lehrern oder Erziehern hören, dass das Kind selbst auf direkte Ansprache nicht reagiert", erklärt Heiko Schulz, Psychologe bei der TK.

Stilles Kind, stumme Pein

So ging es auch Ute G. aus Hamburg. Ihre Tochter Anna-Lena (Name geändert) spricht Zuhause ganz normal. "Wir merkten jedoch, dass sie außerhalb ihrer vertrauten Umgebung nur selten und nur mit wenigen Menschen kommuniziert. Auch von der Kindergärtnerin erfuhren wir, dass sie auf Fragen nicht reagiert, nicht einmal Blickkontakt aufnimmt. Bis zur Diagnose war es jedoch ein weiter Weg", erklärt die 45-jährige Mutter. Die Umwelt reagierte oft verständnislos. "Entweder hielt man unsere Tochter für zickig, weil sie nicht antwortete oder man sagte uns, dass wir uns doch freuen könnten, dass wir so ein ruhiges Kind haben", berichtet Ute G. Daher war die Familie fast erleichtert, als die Diagnose "Selektiver Mutismus" feststand. "So wissen wir endlich, woran wir sind und können dafür sorgen, dass unserer Tochter geholfen wird." Inzwischen ist die fünfjährige Anna-Lena in sprachheiltherapeutischer Behandlung. Aber auch die Eltern fördern ihre Tochter, in dem sie sie in schwierigen Situationen fördern und bestärken. "Für andere Kinder im Vorschulalter ist es selbstverständlich, sich allein ein Eis zu kaufen und zu antworten, wenn andere Menschen sie nach ihrem Namen fragen. Unsere Tochter tut sich damit sehr schwer. Deshalb trainieren wir täglich diese Situationen. Wir Eltern müssen uns da oft sehr zurückhalten. Das heißt wir antworten nicht für das Kind und - auch wenn es schwerfällt - wenn sie nicht sagen kann, dass sie ein Eis möchte, dann gibt es auch mal keins ", erklärt Ute G.

Wichtig sei zudem, das Umfeld der Kinder zu informieren. "Gerade in Schulen, in denen viel Frontalunterricht stattfindet, müssen die Lehrer über die Erkrankung Bescheid wissen", so TK-Psychologe Schulz. "Denn je verständnis- und vertrauensvoller das Umfeld damit umgeht, desto leichter fällt es den betroffenen Kindern, die Situationen zu meistern. Bis es soweit ist, können schriftliche Aufgaben oder Aufnahmen von Leseübungen Zuhause helfen." (red)