"Wenn man alle Konzepte konvetioneller Schulen nimmt und auf den Kopf stellt, bekommt man Summerhill", so die Leiterin von Summerhill gegenüber derStandard.at.

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Dreimal die Woche werden die Regeln gemacht, Probleme besprochen. Jeder Schüler und jeder Lehrer hat das gleiche Stimmrecht. Da die Schüler in der Mehrheit sind können sie Lehrer überstimmen.

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"Summerhill" ist eine Ikone. Die 1921 gegründete Schule wurde in den 1960er und 1970er Jahren zum Paradebeispiel für antiautoritäre Erziehung. Der Gründer Neill Sutherland selbst bezeichnete seine Erziehung als "selbstregulativ" und war dem Begriff antiautoritär gegenüber kritisch eingestellt. Grundlage der Schule sind demokratische Strukturen, Mitentscheidung der Schüler und die Freiheit, das zu tun was man möchte. Schulunterricht wird angeboten, ist jedoch nicht obligatorisch. Prüfungen sind möglich, aber nicht verpflichend.

Während viele Schul- und Erziehungsprojekte der "68er" wieder geschlossen sind, gibt es Summerhill nach wie vor. Heute führt Neils Tochter Zoe Readhead das Internat. Mit ihr sprach derStandard.at über Disziplin in der heutigen Gesellschaft, demokratische Schulstrukturen und selbstgemachte Regeln.

derStandard.at: Frau Readhead, welche Rolle spielt Disziplin in der Erziehung?

Zoe Readhead: Ich verwende ungern das Wort Disziplin, weil es impliziert, dass eine Person einer anderen Person sagt, was sie zu tun hat. Summerhill funktioniert so nicht, und ich glaube Familien und das Leben sollte so auch nicht funktionieren. Es geht eigentlich vielmehr um Verhaltensregeln, die jeder versteht und jeder akzeptiert. Manche haben andere Lebensvorstellungen oder Fähigkeiten, wir verdienen den gleichen Respekt.

Wenn ich auch das Wort „Disziplin" nicht mag, die Gesellschaft und auch Summerhill muss dennoch gewisse Regeln haben, um sicherzustellen dass alle sich wohlfühlen. Das ist zwar auch eine Form von Disziplin, aber eine der gesamten Gemeinschaft, eine Art Selbst-Disziplin. Wenn jemand diese Regeln überschreitet, ist es in Summerhill die Gruppe, die entscheidet was gemacht wird.

derStandard.at: In Summerhill werden Regeln von Lehrern und Schülern gemeinsam gemacht. Jeder hat das gleiche Stimmrecht. Wie häufig ändern sich die Regeln in Summerhill?

Zoe Readhead: Über die Jahre haben wir gesehen, dass einige logische bestehen bleiben. Regeln über Sicherheit und Gemeinwohl bleiben üblicherweise gleich, so zum Beispiel darüber, wann man das Gelände verlassen darf und wie lange. Andere Regeln entstehen aus aktuellen Problemen heraus. Jemand beschwert sich beispielsweise, dass sein Zimmer ohne Nachfrage betreten wird. Das wird dann diskutiert und vielleicht eine Regel beschlossen, die das unterbindet. Solch eine Regel kann temporär sein, wenn man sie nicht mehr benötigt, dann schafft man sie wieder ab. Durchschnittlich gibt es ungefähr 250 Regeln.

derStandard.at: Wie kommen sie zu Stande?

Zoe Readhead: Wir haben drei Treffen in der Woche, sogenannte "School Meetings". Dort reden wir über neue oder bestehende Regeln oder diskutieren über Probleme.

derStandard.at: Wie geht es Lehrern, die an ihre Schule kommen, mit solch einem Schulsystem?

Zoe Readhead: Lehrer müssen sich natürlich vorher mit Summerhill auseinandergesetzt haben. Im Unterricht gibt es jedoch völlig andere Erfahrungen mit Disziplin, weil Kinder sich aussuchen, ob sie den Unterricht besuchen oder nicht. Lehrer haben dadurch weniger Probleme in der Klasse. Einer der Gründe warum Kinder in konventionellen Schulen den Unterricht stören, ist, weil sie von Anfang an gar nicht dort sein wollen. Summerhill-Schüler haben selbst entschieden, in die Klasse zu kommen, und da die Klassen nicht verpflichtend sind, kann der Lehrer auch sagen: „Wenn du Lärm machen willst, geh raus".

derStandard.at: Nicht verpflichtend in die Klasse gehen zu müssen dürfte ein Traum für viele Schüler sein. Wieviele entscheiden sich dazu, nicht den Unterricht zu besuchen?

Zoe Readhead: Das ist schwierig zu sagen, da wir keine Aufzeichnungen darüber machen. Uns interessiert nicht so sehr ob sie in die Klasse gehen, sondern wie sie sich generell entwickeln. Was wir in Summerhill gelernt haben – was sich auch konventionelle Schulen aneignen sollten – ist, dass die Bedürfnisse von Kindern nicht die sind, die Schulen anbieten oder anbieten können. Kinder besuchen vielleicht einen Kurs für ein bis zwei Wochen und machen dann etwas anderes und kommen dann zurück und machen weiter. Wir glauben, dass so der natürliche Lernrhythmus besser funktioniert. Das zeigt uns, dass Mainstream-Schulen in der ganzen Welt es komplett falsch machen, weil sie erwarten dass Kinder, wenn man sie jeden Tag in die Schule setzt, lernen.

derStandard.at: Summerhill gibt es seit vielen Jahrzehnten, dennoch spricht man immer noch von einer „neuen" Form von Pädagogik. Welche Veränderungen sehen sie seitdem in den konventionellen Schulen?

Zoe Readhead: Summerhill wird zwar immer noch als neuer Ansatz angesehen, die Schule gibt es aber seit fast 90 Jahren. In dieser Zeit sind viele Ansätze aufgetaucht und wieder verschwunden. Unser Konzept ist dasselbe geblieben. Für mich ist es schwierig, das konventionelle Schulsystem ernst zu nehmen, weil es Menschen nicht erlaubt Menschen zu werden.

Überall gibt es Probleme mit Jugendlichen, die zu viel trinken, die sich nicht benehmen und keinen Respekt vor anderen Menschen haben. Was erwarten wir? Wenn wir ihnen nicht die Möglichkeit geben diese Fähigkeiten früh zu lernen, miteinander friedlich zu agieren, dann wird es nicht funktionieren. In den meisten Ländern fehlt genau dies in den Lehrplänen.

derStandard.at: Summerhill wurde durch die Bücher von A.S. Neill berühmt, im deutschsprachigen Raum vor allem in den 1960er und 1970er Jahren, auch als Teil eines alternativen Gesellschafskonzeptes. Ist es ein Nachteil in solch einer Weise politisch eingeordnet worden zu sein?

Zoe Readhead: Ich glaube nicht. Summerhill war immer ein kontroversieller Ort. Wir machen aber einfach weiter was wir tun, manche Leute lieben uns dafür und manche hassen uns dafür. Die meisten Leute verstehen uns aber gar nicht.

derStandard.at: Neben einem demokratischen System und weniger hierarchischen Regeln, was sind die größten Unterschiede zu konventionellen Schulen?

Zoe Readhead: Das sind schon sehr große Unterschiede. In Summerhill stehen die individuellen Bedürfnisse vor allem andern. Wenn ich gefragt werde: „Sind ihre Schüler erfolgreich?" antworte ich: „Wer bestimmt Erfolg?". Die Erfolgskriterien in Summerhill unterschieden sich von anderen Schulen. Unser Kriterium ist, dass Menschen glücklich sind und bleiben. Sie werden nicht notwendigerweise zu Albert Einsteins erzogen, sondern zu glücklichen Menschen. Darum gibt es Summerhill. Es unterschiedet sich so sehr von Mainstream-Schulen wie es nur möglich ist. Wenn man alle Konzepte konventioneller Schulen nimmt und auf den Kopf stellt, bekommt man Summerhill.

derStandard.at: Summerhill besteht seit fast 90 Jahren. Wo war die Schule erfolgreich, wo scheiterte sie und wo gibt es noch Veränderungsbedarf?

Zoe Readhead: Die Philosophie der Schule hat sich nicht geändert, weil sie funktioniert und sie fundamental für unser Leben ist. Wir wollen sie auch nicht verbessern, denn wenn man ein gutes Rezept gefunden hat, dann bleibt man dabei. Unseres ist einfach: Behandle Kinder als normale Menschen, mit Respekt und Gleichbehandlung und lass sie selbst entscheiden. So wollen wir auch als Erwachsene behandelt werden. Es ist eine sehr einfache Philosophie, die wir alle befolgen sollten, leider aber nicht tun.

derStandard.at: Könnte Summerhill für ein ganzes Land funktionieren?

Zoe Readhead: Ja, natürlich, weil Menschen so leben wollen und Kinder so leben wollen. Sie wissen es nur noch nicht. (Sebastian Pumberger, derStandard.at, 9.8.2010)