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Spermienproduktion unterliegt Schwankungen: Von Mann zu Mann, aber auch zeitliche und geographische Faktoren beeinflussen die Fruchtbarkeit. Das macht Studien zur männlichen Fertilität ganz besonders diffizil.

Foto: Dennis Kunkel Microscopy, Inc./Corbis

"Der Wille ist stark, aber das Sperma ist schwach": Nachrichten wie diese waren immer wieder zu lesen, Männer hätten viel weniger Spermien als noch vor Jahrzehnten, die Fruchtbarkeit lasse nach. Zitiert wurden Studienergebnisse, die sich wie Horrormeldungen anhörten. Die Spermaqualität sinke, so die Forscher. Es sei nur noch eine Frage von Jahrzehnten, bis der Mann zeugungsunfähig sei. Die Menschheit sei auf dem Wege, sich selbst auszurotten.

Brandneu ist jetzt aber eine kritische Analyse der Studien: Dass die Anzahl der Spermien zurückgeht, lässt sich nicht belegen. Viele der alarmierenden Aussagen beruhen auf fehlenden Standards bei Messmethoden, falschen Statistiken und Gruppen von Studienteilnehmern, die man nicht miteinander vergleichen darf. "An der Spermienkrise ist nichts dran", sagt Eberhard Nieschlag vom Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie in Münster. "Wir haben klare Hinweise, dass sich die Spermienqualität der Männer nicht geändert hat."

Genese der Theorie

Die Geschichte der Spermienkrise beginnt in den 1980er-Jahren. Damals hatten Forscher in einzelnen Studien beobachtet, dass sich die Samenqualität der Männer zu verschlechtern schien. Wissenschafter aus Kopenhagen analysierten dann die Daten von 62 Studien aus den Jahren 1938 bis 1990 und stellten fest: Spermavolumen und Anzahl der Spermien hatten tatsächlich deutlich abgenommen. Pro Jahr sinke die Zahl der Spermien um etwa eine Million pro Milliliter Ejakulat. Würde sich dieser Trend fortsetzen, wäre um das Jahr 2060 der Nullpunkt erreicht. Bevor sich die Menschheit durch Umweltverschmutzung und Krieg ausrotten würde, stürbe sie vermutlich wegen nachlassender Fruchtbarkeit aus.

Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel widmete der Fruchtbarkeitskrise eine Titelgeschichte, andere Medien sprangen auf. Und Wissenschafter formulierten Hypothesen: zu enge Jeans, Tabak, Alkohol, Stress, radioaktiver Niederschlag, Klimaerwärmung oder Handystrahlen. Einige Forscher vermuteten, dass Chemikalien wie Phtalate als Weichmacher für Kunststoffe oder Bisphenol A in Babyflaschen verantwortlich sein könnten, weil sie ähnlich wie Hormone wirken und die Entwicklung der Spermien beeinträchtigen. Schließlich brachte man die nachlassende Kinderzahl in westlichen Industrieländern mit der "Spermienkrise" in Zusammenhang und auch die zunehmende Anzahl künstlicher Befruchtungen in Industrieländern.

Die bisher erschienenen Studien analysierte kürzlich der Androloge Nieschlag gemeinsam mit Forschern aus den Niederlanden. "Nach der dänischen gab es 27 weitere", sagt er. "Die meisten zeigen, dass sich die Spermienqualität in den vergangenen Jahrzehnten entweder gebessert hat oder unverändert geblieben ist."

Dass man Alarmmeldungen kritisch sehen muss, bestätigen inzwischen Studien von Statistikern der Uni Mainz und des Reproduktionsmediziners Harry Fisch von der Cornell University in New York. "Auch die dänischen Forscher haben ihre Ergebnisse widerlegt", sagt Nieschlag. "Sie untersuchen seit 1996 jedes Jahr das Sperma von 350 jungen Männern kurz vor der Musterung. Seitdem hat sich die Samenzahl im Durchschnitt nicht geändert."

Argumente dagegen

Trotz allem hält sich die Legende der Spermakrise. "Geschichten über Krisen verkaufen sich eben gut", vermutet Nieschlag. Dabei sind die Unzulänglichkeiten der dänischen Studie von 1992 schon lange bekannt: "Das sind zum einen die nicht standardisierten Messmethoden in den 62 Einzelstudien", sagt Andreas Jungwirth, Androloge in Salzburg und Mitglied der Infertility Working Group der Europäischen Gesellschaft für Urologie. "Normalerweise zählt ein Labormitarbeiter die Spermien unter dem Mikroskop. Vergleicht man die Zählung der Laboranten untereinander, kann es Unterschiede geben." Ein weiteres Problem sei die nicht einheitlich erfasste Karenzzeit, das heißt die Zeit von der letzten Ejakulation bis zur Gewinnung der Samenprobe im Labor. "Ist dieser Abstand zu kurz oder zu lang, kann dies die Menge der Spermien beeinflussen", erklärt Jungwirth. Hinzu kommt, dass die Forscher Männer aus verschiedenen Ländern verglichen. "Wir wissen aber, dass sich die Anzahl der Spermien von Land zu Land unterscheidet. In Österreich ist sie geringer als in Finnland und höher als in Dänemark." Die meisten Studien vor 1970 stammten aus den USA, vor allem New York - Gegenden mit sehr hohen Spermienkonzentrationen. Nach 1970 wurden deutlich weniger Studien in den USA durchgeführt. Der zeitliche Vergleich mit Ländern geringer Konzentration kann einen Abwärtstrend zeigen, der in Wirklichkeit nicht existiert.

Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass die Anzahl der Spermien keine definitiven Aussagen über die Fruchtbarkeit zulässt. Denn mindestens ebenso wichtig wie die Anzahl der Spermien sind andere Werte im Sperma, unter anderem wie die Spermien aussehen und wie gut sie sich bewegen. "Das Problem bei den Studien ist, dass die Werte ziemlich schwanken können", sagt Dietmar Spitzer, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin. "Und zwar nicht nur zwischen verschiedenen Männern, sondern auch bei ein und demselben Mann zu verschiedenen Zeitpunkten. Die Werte können nicht nur durch die Karenzzeit beeinflusst werden, sondern auch von der Jahreszeit, einer erhöhten Hodentemperatur durch langes Sitzen oder durch Rauchen."

Status quo

Ein einzelner Befund sei daher nicht aussagekräftig. Reproduktionsmediziner beobachten immer wieder, dass Männer mit schlechten Werten Kinder zeugen. Klarheit bringen nur langfristige Studien, die das Sperma von Männern aus einer Region über einen längeren Zeitraum mit derselben Messmethode untersuchen. "Bis jetzt haben wir zu wenige Daten", sagt Androloge Jungwirth, Hinweise, dass die Spermaqualität abgenommen hat, habe man aber nicht. Über einen Zeitraum von 20 Jahren hat er die Spermienqualität von jährlich rund 120 Männern bestimmt, die sich sterilisieren lassen wollten. "Während der ganzen Zeit ist die Spermienzahl konstant geblieben. Ein größeres Problem sei, dass Frauen immer später Kinder bekommen: "Dass die Fruchtbarkeit der Frau im Alter drastisch sinkt, ist gut bewiesen." (Felicitas Witte, DER STANDARD Printausgabe, 30.08.2010)