"In der Schule ist es verschrien, ein Streber zu sein. Das hat schon mit der Kultur eines Landes zu tun." Spiel über die Leistungskultur in Österreich.

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"Wenn man in die frühe Bildungskarriere investiert, weiß ich nicht, ob es sich ausgeht, dass man ohne Studiengebühren auskommt", sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel im derStandard.at-Interview. Sie erklärt, warum sie ihr Institut zusperren müsste, wenn es keine Zugangsbeschränkungen gäbe und warum Aufnahmeverfahren für alle Studienrichtungen fair wären. Die Fragen stellte Lisa Aigner.

derStandard.at: Würden Sie Österreich als intellektualitätsfeindliches Land bezeichnen?

Spiel: Ich würde sagen, dass wir eine Kultur haben, die nicht sehr leistungsförderlich ist. In der Schule ist es verschrien, ein Streber zu sein. Das ist ein Schimpfwort. Gerade im Alter zwischen zehn und zwölf ist es uncool, gute Noten zu haben. Das hat schon mit der Kultur eines Landes zu tun. Wir haben sehr viele Knaben, die als Bildungsverlierer bezeichnet werden. Sie sind zwar neun Jahre lang in die Schule gegangen und haben die Schulpflicht erfüllt, aber keinen Abschluss. Denen ist gar nicht bewusst, was das für ihr späteres Leben bedeutet. Sie haben viel weniger Chancen, einen Beruf zu bekommen, der ihnen Freude macht und der sie erfüllt und gleichzeitig eine viel höhere Gefahr arbeitslos zu sein. Im Eurobarometer wird gefragt, für wie wichtig man Wissenschaft und Forschung hält. Da liegt Österreich an letzter Stelle.

derStandard.at: Wie könnte man dem entgegenwirken?

Spiel: Kulturelle Dinge sind sehr schwierig zu ändern. Das geht fast nur, wenn jeder aktiv etwas dazu beiträgt. Das beginnt bei den Politikern, die nicht immer sagen sollen: „Ich war in der Schule auch so schlecht, besonders in Mathematik und aus mir ist trotzdem was geworden". Das hört man immer wieder. Das geht weiter über Radio und Fernsehen. Auf Ö3 höre ich zum Beispiel ständig: „Endlich Ferien, endlich Wochenende, endlich keine Schule". Das geht nicht mit einer Maßnahme, sondern nur, wenn alle gegen diese Kultur ankämpfen.

derStandard.at: Einer unserer User hat folgendes gepostet: „Die Studenten glauben auch das Brot, Wasser und Bier und sonstige Sachen vom Himmel fallen.... Wer sollte das denn bitte bezahlen? Wieso muss ich als Arbeitender das Leben von Studenten bezahlen?" Wie erklären Sie so eine Argumentation?

Spiel: Nachdem das Geld zweifellos endlich ist – das steht auch in diesem Posting: es fällt nicht vom Himmel, sondern ist unser Steuergeld – muss man sich fragen, wo man es investieren soll, damit es möglichst allen zu Gute kommt und nachhaltig ist. Die Studien zeigen, dass, je früher man Benachteiligungen ausgleicht, desto nachhaltiger die Wirkung ist. Ich würde das Geld daher eher in den Gratiskindergarten stecken, als in ein Gratisstudium. Derzeit reproduzieren wir in Österreich sehr stark unsere Bildungsschichten. Deshalb hat der User, der dieses Posting geschrieben hat, nicht ganz unrecht, weil das Geld von den Personen, die im Allgemeinen nicht studieren, dafür verwendet wird, dass jemand anderer studieren kann. Man muss auch sehen, dass die Personen, die studieren, später im Mittel ein höheres Einkommen haben.

derStandard.at: Würden Sie sich Studiengebühren wünschen?

Spiel: Ich wünsche mir keine Studiengebühren. Aber wir sollten überlegen wie viel Geld, auch in Anbetracht der Wirtschaftskrise, wir haben und wohin wir es investieren wollen. Man kann Studiengebühren nicht losgelöst vom gesamten Bildungsweg sehen. Wenn man also – was ich begrüßen würde – in die frühe Bildungskarriere investiert, weiß ich nicht, ob es sich dann noch ausgeht, dass man ohne Studiengebühren auskommt. In jedem Fall müssten Studiengebühren mit einem vernünftigen Stipendiensystem verbunden werden. Hier bin ich nicht nur für Stipendien für sozial schwache, sondern auch für Leistungsstipendien.

derStandard.at: Im Zuge der Bildungsproteste wurde oft die Ökonomisierung der Bildung bzw. des Bildungsbegriffs kritisiert. Beobachten Sie dieses Phänomen auch?

Spiel: Wir haben in den letzten Jahren eine Entwicklung in Richtung einer Wissensgesellschaft. Wissen ist dadurch etwas wert und hat damit auch einen ökonomischen Nutzen. Wir an den Universitäten werden z.B. dafür bezahlt, dass wir Wissen vermitteln und neues Wissen schaffen. In Österreich haben wir keine Bodenschätze von denen wir leben können. Deshalb sind wir auf das Wissen der Menschen angewiesen, dass sie eine gute Bildung haben und durch ihr Wissen Neues schaffen. Das stellt auch einen ökonomischen Wert für den Staat dar. Die derzeitige Diskussion um Ökonomisierung läuft für mich zu polemisiert ab.

derStandard.at: Was halten Sie von der Umsetzung des Bologna-Systems in Österreich?

Spiel: Das Grundkonzept von Bologna finde ich gut. Die Idee war, mehr Menschen an die Hochschule zu bringen. Zweifellos ist es aber so, dass nicht alle einen so langen Atem haben, dass sie fünf Jahre studieren wollen und können. Es ist gut, wenn man ihnen einen Abschluss anbietet, den sie auch am Markt verwerten können. Die Idee war, dass jemand nach der Schule ein Bachelorstudium macht, dann arbeitet und wenn er sich später weiterbilden will, ein Masterstudium anschließt. Das greift in Österreich noch wenig. Die Universitäten bieten kaum berufsbegleitende Studien an. Die Umsetzung von Bologna war sehr verordnet. Alle mussten umsteigen, man hat nicht überlegt, wo eine Umstellung sinnvoll ist und wo nicht. Ein Problem war auch, dass man Bologna in Österreich sehr korsetthaft und mit Zwang angewandt hat und es an Flexibilität hinsichtlich der Länge von Bachelor- und Masterstudiengängen fehlt. Das hat natürlich Widerstand bei den Lehrenden ausgelöst.

derStandard.at: Sie leiten das Institut für Bildungspsychologie. Wie beurteilen Sie die Zugangsbeschränkungen in der Psychologie?

Spiel: Wir haben 1.700 Interessierte und zehn Professoren. Wie sollen wir 1.700 Studienanfänger bewältigen und vor allem qualitätsvoll bilden und ausbilden? Viele davon kommen von der Schule mit unrealistischen Erwartungen und ohne wirklich zu wissen, was Psychologie ist. Wenn man alle studieren lässt, könnte man aufgrund von Überfüllung gleich wieder zusperren.

derStandard.at: Sind Sie generell für die Einführung von Aufnahmeverfahren in allen Studienrichtungen?

Spiel: Man muss sich immer fragen, was das Ziel von Aufnahmeverfahren oder Einführungssemestern sein soll. Sie sollen informieren und gleichzeitig prüfen, ob Motivation und Kompetenzen zu den Anforderungen des Studiums passen. Solche Verfahren müssten ja auch nicht punktuell sein, sondern könnten sich zum Beispiel – wie auch diskutiert – über ein Semester erstrecken. Jede Studienrichtung sollte ein Anforderungsprofil für das Studium entwickeln. Den Studierenden sollte man Informationsmaterial zur Verfügung stellen, damit sie wissen, was sie im Studium erwartet und welche Anforderungen an sie gestellt werden. Diese sollte dann mittels „Arbeitsproben" geprüft werden. Darum bin ich eher für allgemeine Aufnahmeverfahren oder kurze Einführungsphasen. Es wäre fast unfair, wenn man so etwas nur für Fächer macht, wo es viele Studierende gibt.

derStandard.at: Gerade in der Bildungspolitik geht in Österreich sehr wenig weiter. Die Fronten sind zum Beispiel im Bereich der Gesamtschule verhärtet. Wie könnte man sie aufweichen und schneller zu einer Lösung kommen?

Spiel: Ich habe dauernd Déjà-vu-Erlebnisse und es kommt mir so vor, als ob wir uns seit Jahren im Kreis drehen. Ich glaube, nachdem sich die Parteien jetzt so in ihren Positionen festgefahren haben, kann man nur etwas weiterbringen, wenn man von der Diskussion um die äußere Form wegkommt und mehr über Inhalte spricht. Darüber wird ohnehin viel zu wenig gesprochen. Ich würde doch meinen, dass die Ziele der Parteien und Politiker für die Kinder dieselben oder zumindest sehr ähnlich sind. Vielleicht kann man über eine Zieldiskussion seine festgefahrenen Positionen verlassen. Denn Stärke ist, wenn ich mich auch bewegen kann.

derStandard.at: Finanzminister Josef Pröll hat sich in Sachen Lehrerkompetenz hinter die ÖVP-Länder gestellt. Sie haben bereits davor vor einer Verländerung des Schulsystems gewarnt, warum?

Spiel: Da gibt es genügend Bestandsaufnahmen dazu. Die Expertinnen und Experten sind sich hier sehr einig, dass es nicht nur ökonomisch nicht sinnvoll wäre, sondern natürlich auch die Gefahr besteht, dass das Bildungssystem zersplittert wird. In dem Augenblick, indem die Hoheit wo anders liegt, haben wir völlig unterschiedliche Entwicklungen in der Schullandschaft, was hinsichtlich Fairness für die Kinder nur nachteilig sein kann. (derStandard.at, 29.11.2010)