"Diejenigen, die nach den Schülern am zweitmeisten unter dem Schulsystem leiden, sind die Lehrer."

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Das "New Public Management" in der Verwaltung sei sinnvoll, sagt der Wiener Jugendanwalt Anton Schmid im Interview mit derStandard.at. Er fordert ähnliche Reformen für die Schulen. Ein "New School Management" sozusagen, wo es um eine Förderung und Verstärkung der Schüler-, Eltern- und Lehrerorientierung in der öffentlichen Schulverwaltung gehen soll. "So wie Jugendliche gerne in ein Jugendzentrum gehen, müssen sie auch gerne in die Schule gehen", so Schmid. Warum er bei der Schulreform das "Festhalten an parteipolitischen Richtungen" schlecht findet und wieso er die Verankerung der Kinderrechte in der Verfassung, wie sie vergangene Woche beschlossen wurde, kritisiert, sagt Schmid im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Sie haben gefordert, dass die Schule ein "ganzheitliches System" sein soll. Sie solle zu einer Dienstleistung für Kinder und Jugendliche werden und auch als solche verstanden werden. Was genau meinen Sie damit?

Schmid: Ein Dienstleistungsunternehmen im marktwirtschaftlichen Sinn geht natürlich nicht. Da sind die Voraussetzungen andere, da entscheidet der Kunde, ob er wo hingeht oder nicht. Aber wenn Sie sich zum Beispiel das "New Public Management" ansehen: Dabei versucht man die Kriterien eines Dienstleistungsleistungsunternehmens auf ein nicht auf Profit orientiertes System zu übertragen und all die Punkte, die notwendig sind – wie KundInnenzufriedenheit, Mitwirken im System – umzusetzen. Wenn ich das auf die Schule übertrage und mich ernsthaft damit auseinandersetze – nicht immer auf diesem oberflächlichen Niveau Ja/Nein Gesamtschule – könnte das ein Fortschritt sein.

Man muss das wissenschaftlich untersuchen und schauen, wie kann ich das System Schule SchülerInnen-, LehrerInnen- und Eltern-orientiert gestalten. Da können wir so viel von anderen lernen, die schon oft Umstruktuierungen in großen Organisationen betrieben haben.

derStandard.at: Sie betonen, es ist wichtig alle drei Seiten einzubeziehen: Schüler, Lehrer und Eltern.

Schmid: Genau. Wir müssen erreichen, dass die Schüler gerne zur Schule gehen. So wie Jugendliche gerne in ein Jugendzentrum gehen, müssen sie auch gerne in die Schule gehen. Das machen sie meistens in der ersten Klasse Volksschule und danach nicht mehr. Man muss auch schauen, dass die Eltern kaum eine Belastung durch die Schule haben. Und ich muss auch schauen, dass sich die LehrerInnen wohl fühlen. Schule, mit Unterricht und Freizeit, muss Mittelpunkt der Sozialisation der Kinder und Jugendlichen – ausgenommen des Elternhauses – sein.

derStandard.at: Was muss denn konkret besser werden?

Schmid: Alles, die Situation muss besser werden. Wir werden zwar nie ein total konfliktfreies Szenario haben, aber wir müssen einmal anfangen, das im Ganzen durchzudenken. Da denke ich mir, ist eine Umstellung, wie sie beim" New Public Management" in der Verwaltung gemacht worden ist, sinnvoll. Früher wurde in der Verwaltung viel herumgedoktert, soweit bis sie immer schlechter und schlechter geworden ist. Dann sind endlich Menschen gekommen, die sich wissenschaftlich damit auseinandergesetzt haben. Und schön langsam fängt das neue System an zu greifen.

derStandard.at: Das kann man 1:1 auf die Schule umlegen?

Schmid: Ich glaube schon, dass es so geht. Man muss die Mitsprache in den Schulen besser organisieren. Gar nicht so sehr die Diskussion, mach ich eine ganztägige Schulform, mach ich eine halbtägige Schulform usw. Das wird zum Beispiel in Großarl auch anders sein als in Favoriten.

derStandard.at: Auch die Debatte Gesamtschule vs. Gymansium ist nicht das Vordergründige?

Schmid: Das ist ein Festhalten an parteipolitischen Richtungen. Es ist eine Katastrophe. Es gehört ein Auftrag her, der nicht von der Politik kontrolliert wird. Man muss die SchülerInnen als Hauptzielgruppe Nummer eins einer Schule zu zufriedenen KundInnen machen. Die Bereitschaft und Mitarbeit der Lehrenden muss auch gegeben sein. Das Wohlfühlen muss auch ein Ziel sein. Deswegen soll die Reform aus der politischen Diskussion herausgenommen werden.

derStandard.at: Die ÖVP hat vor wenigen Tagen ihr Bildungsprogramm präsentiert. Bei der ÖVP schimmert auch immer durch, dass die Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen sind. Ein guter Halt im Elternhaus sei wichtig. Was können Sie dazu aus Ihrer Praxis als Jugendanwalt sagen – können die Eltern dieser Funktion nachkommen? Soll das so sein?

Schmid: Ich lade diese Vertreter zu Besprechungen von mir mit Eltern ein, die froh sind, dass ihre Kinder nicht in die Kriminalität abrutschen. Sie haben andere Sorgen, als die Schule zu stärken. Natürlich gibt es Eltern, die das gut machen, aber es gibt Eltern, die das nicht wollen, die andere Sorgen im Kopf haben.

derStandard.at: Sie haben gesagt, LehrerInnen seien nicht dazu da, Kinder zum Auswendiglernen zu drillen. Stattdessen sollten sie ihnen beibringen, wie man Zusammenhänge erkennt oder wo man nach Informationen suchen kann. Sind die Lehrer ihrer Rolle nicht gewachsen?

Schmid: Es gibt hier auch wieder die gesamte Bandbreite. Tatsache ist, dass diejenigen, die nach den Schülern am zweitmeisten unter dem Schulsystem leiden, die Lehrer sind. Sie werden ständig von außen, ständig von den Schülern angegriffen. Ich bin sehr oft an Schulen. Ich sage Ihnen ein Beispiel, wie ein System Lehrer fertig machen kann. An einer Schule, ich sage nicht welcher, gilt für Schüler, dass sie im Winter, wenn es matschig ist, Hausschuhe in der Schule tragen müssen. Für Lehrer gilt das nicht. Wenn man ein bisschen was von Pädagogik versteht, ein bisschen was von Mitarbeiter-Orientierung, muss man sagen, das ist ein Wahnsinn. Genau das muss geändert werden. Stellen Sie sich vor, ein Chef macht das mit seinen Mitarbeitern.

Die Rechte von SchülerInnen und LehrerInnen müssen ganz klar abgegrenzt werden, die Mitsprache der Eltern muss geklärt sein. Das ganze System muss auf einem entgegenkommenden Verhalten, einem respektvollem Umgang basieren.

Die Lehrer haben auch das Problem, dass das Schulsystem ein defizitorientiertes System ist. Dort, wo die SchülerInnen ihre Stärken haben, werden sie nicht unterstützt, sondern, man schaut immer auf Ihre Schwächen. Ich bin für Gleichmacherei nach oben. Das ist ein gutes Bild. Nicht Gleichmacherei nach unten, wie alle immer befürchten.

derStandard.at: Oft werden Argumente gesucht, warum Jugendliche schlecht lesen können, Stichwort schlechte Ergebnisse bei der PISA-Studie. Manche sagen, es liegt am Computerspielen, an den neuen Medien, am Internet. Wie ist da Ihre Erfahrung?

Schmid: Das sind Erklärungsversuche. Wenn man einen Jugendlichen in seiner Gesamtheit nimmt und er acht Stunden am Tag vorm PC sitzt, ist das nicht gesund. Keine Frage. Man muss sich aber immer anschauen, warum macht er das. Wenn ich dann drauf komm, er ist ein irrsinnig guter Stratege, dann muss ich schauen, wie kann ich ihn stärken. Ich darf nicht schauen, wie ich ihn auf eine halbe Stunde Computerspielen reduziere. Stärken zu stärken heisst immer auch Schwächen zu schwächen. Das sollte die Grundüberlegung beim Unterricht sein.

Es ist für Jugendliche heutzutage selbstverständlich, dass sie mit dem Computer kommunizieren. Nur wir von einer Übergangsgeneration sehen immer die großen Probleme. Es gibt in der Psychologie die sogenannte Etikettierungstheorie. Wenn ich jemandem ständig sage, er sei ein Trottel, dann glaubt er das irgendwann einmal. Wenn ich ständig sage, die Jugendlichen sind kriminell, die Lehrer arbeiten nichts, die Schüler werden immer dümmer, sie können nicht mehr lesen und schreiben, irgendwann wird das dann auch Realität. Medien haben hier eine enorme Verantwortung durch ihre Berichterstattung und somit Beeinflussung der Menschen.

derStandard.at: Es hat eine Einigung bei den Kinderrechten gegeben. Wie schlimm finden Sie, dass das Recht auf Bildung nicht eingeflossen ist?

Schmid: Ein Beispiel: Ich hab Anrufe von einem Unternehmer, einem Friseur bekommen. Er stellt immer türkische Mädchen an, gibt ihnen die Möglichkeit, innerhalb der Dienstzeit einen Deutschkurs zu machen und zahlt in auch. Zweimal ist es schon vorgekommen, dass es der Vater verboten hat.

Wenn ein Minderjähriger solche Eltern hat, die eine Bildungsoffensive für den Jugendlichen verbieten, dann würde ich hergehen – wenn es Verfassungsrang wäre – und würde mir die Gesetze anschauen. Ich würde mir ansehen, was läuft falsch, dass der Vater sowas darf. Und dann muss man die Gesetze ändern. Jetzt ist aber dieses Recht auf Bildung nicht in der Verfassung verankert, daher kann man nicht handeln und dieses Recht auf Bildung nicht einklagen. Obwohl die Regierung lauthals verkündet, dass die Kinderrechte jetzt verfassungsmäßig abgesichert sind, stimmt's aber in der Praxis nicht. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 24.1.2011)