In Thebens Herrscherfamilie trägt man streng nach hinten gekämmtes und messerscharf gescheiteltes Haar. Auf der schiefen Bahn Richtung Untergang benötigen die Mächtigen, so scheint's, den Coiffeur, um einen Anschein unerschütterbarer Ordnung aufrechtzuerhalten. Da verwundert es nicht, dass den Propheten des Untergangs, den blinden Seher Tiresias ein unbotmäßiger Lockenkopf ziert. Und dass die regimefromme Tyrannennichte Ismene zum strengen Scheitel BDM-alludierende Zöpfe nebst Kniestrümpfen trägt, darf an einem Theaterabend, der mit Die Antigone des Sophokles von Bertolt Brecht annonciert wird, getrost als obligater Faschismus-Fingerzeig durchgehen.

Der Regisseur Dimiter Gotscheff, in jahrzehntelangem (Ost-) Berliner Brecht- und Heiner-Müller-Dienst zum Experten für die Herstellung von Evidenz durch mutwillige Verdunkelung gereift, verwendet in seiner Antigone- Inszenierung am Hamburger Thalia-Theater Brechts sogleich zum Modell kanonisierte Bearbeitung von 1947/48 weniger als Arbeitsgrundlage denn als Trampolin für die Rolle rückwärts in die ideologische, propagandistische Antike.

Während Brecht das Ende der Labdakiden und das Ende der Nazis mithilfe einer präludierenden Kurzszene, in der ein SS-Mann in den letzten Berliner Kriegstagen einen Deserteur aufknöpft, kurzschließt und auch sonst beherzt für politische Eindeutigkeit sorgt, lässt Gotscheff Sieges-Choräle anstimmen. Kreon (Bernd Grawert) akkompagniert dabei seine Cheerleader eigenhändig auf der palasteigenen Heimorgel, zu der er später immer dann improvisierend zurückkehrt, wenn es darum geht, die kriegsmüde Bevölkerung bei Laune zu halten.

Nur wird bei dieser modern anmutenden Herrschaftspraxis durch Entertainment Kreons tragischer, durch Rechtsstandpunkte wohlbegründeter und daher unlösbarer Konflikt mit Antigone zum privaten Problem mit einer etwas überspannten Verwandten minimiert. Die Verteidigerin einer aller Staatsräson übergeordneten und keiner Macht verfügbaren Humanität ("Zum Hasse nicht, zur Liebe leb ich") erscheint als Anhängerin irrational-folkloristischer Praktiken, der mit Vernunft nicht beizukommen ist.

Die Schauspielerin Patrycia Ziolkowska widersetzt sich dieser Degradierung Antigones unter Aufbietung einer imponierenden Vielfalt von Ausdrucksmodi, von virtuoser gestischer Subtilität bis zu einer leicht hysterischen und dennoch stets äußerst kontrollierten Sprechweise. Wirklich verhindern kann sie nicht, dass die Aufführung ihre Titelheldin nach und nach aus den Augen verliert und am Ende sogar vergisst, von ihrem Tod zu erzählen.

Der Bühnenhimmel weint trotzdem, oder, womöglich ist dies die besonders hintersinnige "Autor"-Chuzpe der Bühnenbildnerin Katrin Brack, vielleicht gerade deshalb. Unentwegt fallen dicke opalisierende Tränen (oder doch nur Seifenblasen?), die mal in der Luft, mal auf dem Boden zu einem kleinen Wölkchen zerplatzen. Ist dies nun bloß zeichenhafter Kommentar, oder nicht doch selbst schon das ganze faszinierend unfassbare Welttheater des tragisch Vergeblichen? (Oswald Demattia aus Hamburg//DER STANDARD, Printausgabe, 2. 3. 2011)