Wien - Der Ort ihrer Wiederbegegnung hat die zwei Liebenden auf ein schräggestelltes Wrackteil geführt: Wie eine Planke im Weltraum hängt der Aufenthaltsraum einer medizinischen Versandfirma über der Bühne des Wiener Josefstadt-Theaters (Ausstattung: Raimund Orfeo Voigt). In David Harrowers Blackbird wird die Geschichte vom sexuellen Übergriff eines 40-Jährigen auf ein zwölfjähriges Mädchen als analytisches Fest gefeiert.

Die nachträgliche Konfrontation soll die Wahrheit zwischen Una (Maria Köstlinger) und Raymond (Erwin Steinhauer) endgültig ans Licht befördern. Also sucht Una, mittlerweile eine smarte Endzwanzigerin, die Firma ihres Peinigers heim. Ray, der sich nach Verbüßung einer demütigenden Haftstrafe "Peter" nennt und offenbar über den Wirkungskreis eines gehobenen Regalschlichters nicht hinausgekommen ist, trägt viel zu enge, grasgrüne Hosen.

Ray verbirgt die existenzielle Erschütterung, die das Wiedersehen für ihn bedeutet, hinter einer Maske grämlicher Zerknirschung. Harrowers 2005 in Edinburgh von Peter Stein uraufgeführter Dialogtext ist das Paradebeispiel einer von langer Hand angestifteten Verzettelung: Blatt für Blatt wird die skandalöse Liebe einer Minderjährigen zu einem reifen Mann rekapituliert. Ein Stück wie das von Harrower ist der Beweis für die unangefochtene Wirkungsmacht der angelsächsischen Therapie- und Läuterungskultur: Es gibt grundsätzlich nichts, was sich nicht einträchtig besprechen ließe. Hauptsache, Täter und Opfer sind mit viel gutem Willen bei der gemeinsamen Sache.

Allerlei Ambivalenzen

Fälle wie die pädophile Liebe Rays zur (zum Zeitpunkt des Tatgeschehens angeblich frühreifen) Una leben von der ihnen innewohnenden Ambivalenz. Köstlingers sexuelles Auftrumpfen im grellen Scheinwerferlicht des gleißend weißen Zimmers wird als Schauseite einer abgrundtiefen Verzweiflung vor Augen geführt. Niemals ist dem ersten Anschein zu trauen: Hinter Steinhauers voluminöser Bedrohlichkeit verbirgt sich das ebenso heiße wie weiche Herz eines am Boden Zerstörten.

Die gemeinsame Mauerschau der beiden Verlorenen verströmt das Aroma eines tieferen, inneren Einverständnisses. Man ist sich mit Fortdauer des Abends absolut nicht mehr sicher, ob Regisseurin Alexandra Liedtke nicht doch viel zu brav den Mäandern des schlauen Textes hinterherhinkt.

Die Behauptung, dass die Ausübung von Gewalt schlimmstenfalls eine Form von Abhängigkeit erzeugt, findet in der "Macht", die das Opfer über den Täter ausübt, ihr beunruhigendes Gegenstück. In Harrowers Stück kreisen zwei Beschädigte um eine leere Mitte. Und nicht immer wird in Liedtkes Aufführung klar, ob die unerwünschten Effekte einer unmöglichen Liebe nicht doch den bösen Kern bilden, den zu entblößen Harrower vorgeschwebt sein mag.

So sieht man zwei Schauspielern bei der anständigen Bewältigung eines Massivs zu. Ein für das Josefstadt-Theater ungewöhnlicher, insofern wichtiger Abend. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 9./10. April 2011)