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Toll trieben es die russischen Dorfschullehrer: Platonov (Martin Wuttke, re.) als Liebling des Provinzsalons, als Publikum Sofia Egorovna (Johanna Wokalek) und Vojnicev (Philipp Hauß).

Foto: Pfarrhofer/APA

Fundstück: Dass Anton Tschechows (1860-1904) Jugendwerk Platonov überhaupt noch das Licht der Bühnenscheinwerfer erblickte, verdankt sich einer ganzen Reihe von Zufällen: Die Handschrift des mutmaßlich um 1878 entstandenen Stückes wurde im Safe von Tschechows Schwester Maria Pawlowna gefunden. Der junge Künstler hatte es der berühmten Tragödin Ermolowa 1880 zugedacht, war aber über den Bühnenpförtner des Moskauer "Kleinen Theaters" nicht hinausgedrungen. Tatsächlich umfasst das Konvolut 134 doppelseitig beschriebene Blätter. Eine Menge Papier: Auch Alvis Hermanis' Inszenierung am Wiener Akademietheater soll fünf Stunden dauern. Da das Manuskript kein Titelblatt aufweist, musste aus der Familienkorrespondenz erst mühsam der Titel "Die Vaterlosen" rekonstruiert werden: eine unmissverständliche Anspielung auf Turgenjews Roman Väter und Söhne. Die Überschrift Platonov bürgerte sich erst später ein.

 

Narodniki: Die russische Intelligenz gründete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre schönsten Zukunftshoffnungen auf das Wachsen und Erstarken des rückständigen Bauerntums. Dieses wurde nach seiner Befreiung aus der Leibeigenschaft 1866 in Dorfkommunen organisiert, die über die Verteilung von Gütern und Produktionsmitteln wachten. Der bürgerliche Teil der "Narodniki" (zu Deutsch: Volkstümler) propagierte unter dem Eindruck philantropischer Ideen die Freuden einfacher Landarbeit. Wie ein schwelgerisches Sehnsuchtsmotiv hallt die Klage aller Müßiggänger durch Anton Tschechows Stücke: tätig werden, Schwielen an den Händen tragen, moralisch sein! Sofja Egerovna (Johanna Wokalek), die mit dem schmutzigen Dorfschullehrer Platonov durchbrennen will, verheißt ihm eine Zukunft, in der sie gemeinsam "Schweiß vergössen". Der charmante Trunkenbold erkennt den Plattitüden seiner Geliebten einen eher geringen Realitätsgehalt zu: "Es gibt andere Frauen, stärkere als du, und auch die fallen um wie die Fliegen, vom Nichtstun!"

 

Polygamie: Michail Vasiljevic Platonov - ihn spielt Martin Wuttke - nutzt die Unentschiedenheit seines im Grunde gescheiterten Lebensentwurfs, die Damen der Provinzgesellschaft der Reihe nach, gelegentlich auch sehr zeitnah nacheinander, zu beglücken. Seine tolldreiste Geschwätzigkeit, die mit Aperçus durchsetzt ist, vor allem aber unverfroren wirkt, zieht allerlei Begehrlichkeiten auf sich. Alle Versuche, den Wüstling Platonov zu retten, lassen sich alltagspolitisch begreifen: In dem seelischen Trümmerhaufen des verkrachten Intellektuellen glauben die Verehrerinnen, die Anlagen einer schönen Seele zu erkennen. Platonovs Tragödie ist die Kehrseite eines genialen Komödieneinfalls: Der Mann beteuert seine Schlechtigkeit. Doch niemand schenkt ihm Glauben.

 

Schweigen: Der erste Akt von Platonov spielt auf dem Gut der verwitweten Anna Petrovna: Eine intellektuell mäßig anregende Gesellschaft plappert und scherzt sich anno 1880 gemächlich in ein Kollektivbesäufnis mit anschließender Gartenparty hinüber. Nichts erträgt diese Kamarilla schwerer als die Stille. Wenn das Undenkbare dann dennoch eintritt, äußert die Hausherrin spitz: "Schweigen ... Ein Dummkopf ist zur Welt gekommen." Das Bürgertum gefällt sich im Hause Vojnicev in Klassendünkeln: Das "unbehauene Bauernpack" wird in Gestalt betrunkener Domestiken mit Tritten in den Steiß traktiert, anschließend mit der Ausgabe von Rubelnoten verhöhnt.

 

Wechsel: Russlands provinzieller Militäradel lebt auf Pump. Heiratsabsichten wie die des rüstigen Kaufmanns Glagoljev (Peter Simonischek), der die verwitwete Generalin Anna Petrovna (Dörte Lyssewski) zu ehelichen gedenkt, bieten Möglichkeiten, ein abgewirtschaftetes Gut zu sanieren und den Zinsvorschreibungen von Wucherern zu entgehen. In Figuren wie derjenigen Glagoljevs und denen einiger Geldeintreiber sind bereits die Lopachins aus Tschechows Spätwerk enthalten: Sie bekämpfen ihre Minderwertigkeitskomplexe, indem sie "unnahbare" Damen mit hohen Außenständen erotisch bedrängen. Scheitern sie mit ihren Absichten, lassen sie die an sie überschriebenen Kirschgärten, ohne mit der Wimper zu zucken, abholzen.

 

Ziel: Die Vorstellung von einem "neuen Leben" ist die Parole, mit der sich die Platonov-Figuren unausgesetzt in den Sack lügen. "Es reicht", ruft der Hochstapler Platonov im vierten Akt aus. Er brauche kein neues Leben, denn: "Ich weiß ja nicht einmal, wohin mit dem alten ... Nichts brauche ich!" Da hat er, vielleicht aus Gutherzigkeit und allzu großer Ehrlichkeit, bereits die Leben von vier Frauen zerstört, einschließlich das seiner Gemahlin (Sylvie Rohrer), die an den Folgen eines Suizidversuchs laboriert. Tschechow zeigt eine Gesellschaft, die vom "neuen Leben" noch keinen Gebrauch zu machen versteht. Die alte Ordnung ist unrettbar verloren. Die Agenten der kommenden Umwälzung sitzen im Exil, basteln Bomben oder verfassen anarchistische Schriften. Wladimir Iljitsch Lenin ist zum Zeitpunkt der Platonov-Niederschrift rund zehn Jahre alt. (Ronald Pohl / DER STANDARD, Printausgabe, 6.5.2011)