Wenn Minister Karlheinz Töchterle Seneca liest, dann in einer besonderen Ausgabe von 1633 - einem Nachdruck der Ausgabe von Justus Lipsius, nach dem in Brüssel jenes Gebäude benannt ist, in dem der Rat der EU (die Minister) tagt.

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"Die Natur hat dafür gesorgt, dass es, um glücklich zu leben, keines großen Aufwandes bedarf: Jeder kann sich selbst glücklich machen." Seneca (1-65 n. Chr.)

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STANDARD: Ein Glück, dass Sie Seneca-Experte sind. Der römische Philosoph hat in "De vita beata" ("Vom glücklichen Leben") geschrieben: "Vivere omnes beate volunt." Glücklich leben wollen alle. Und: "Die Natur hat dafür gesorgt, dass es, um glücklich zu leben, keines großen Aufwandes bedarf; jeder kann sich selbst glücklich machen." Verraten Sie's uns: Wie macht man sich glücklich?

Töchterle: Hinter der Natur steckt bei Seneca ein Riesengedankengebäude, das stoische. In diesem System ist die Natura die Instanz schlechthin. Ihr Hauptgebot ist: "secundum naturam vivere", also gemäß der Natur leben. Dann lebt man auch glücklich. Aber was ist diese Natura? Die Stoiker meinen, dass das Göttliche als feinste Materie in der Welt, im Kosmos, im Menschen waltet und alles durchdringt. Es sorgt dafür, dass alles gut ist, sonst wäre es ja nicht göttlich. Das göttliche Prinzip ist der Logos. Wenn ich gemäß der Natur lebe, muss ich den Logos in mir leben. Der Logos ist bei den Stoikern das pure Gegenteil des Pathos. Das Pathos ist die Leidenschaft, der Affekt. Wenn ich glücklich leben will, muss ich die Affekte völlig beseitigen.

STANDARD: Leicht gesagt.

Töchterle: Ja, und weil die Stoiker das wussten, geben sie Rezepte: ein ständiges Üben und Bekämpfen der Affekte, um zur Apathia, zur "Affektlosigkeit" zu kommen. Wenn ich keine Furcht, keine Trauer, keinen Zorn habe, kann ich mir das alles antun, auch die Politik, aber mit großer Gelassenheit, innerer Ruhe und Sicherheit. Der Stoiker tut sich alles an. Der Epikureer sagt: Tu dir ja nichts an! Er will zur "hedone", zur Freude, zur Lust kommen, indem er alle Quellen, die möglicherweise Unlust liefern, ausschaltet. Das ist eine defensive Glückslehre. Die Stoiker sagen: Ich kann mein Glück nur erringen, wenn ich mir das für mich Erreichbare als Ziel setze. Nicht erreichbar für mich ist zum Beispiel, ob ich gesund oder krank, schön oder schiach, groß oder klein, reich oder arm - da kann ich ein bissl was tun - bin. Deswegen ist immer nur entscheidend, was ich für mich selbst erreiche, also nur mein Innenleben ist relevant. Alles andere ist nicht relevant. Der griechische Begriff dafür ist "adiaphora" oder lateinisch "indifferentia". Das muss ich mir aber natürlich dauernd einreden, dass mich das alles nicht betrifft. Also ein extrem kämpferisches, anstrengendes, mühsames Sichvorankämpfen zum Glück.

STANDARD: "Glücklich kann derjenige genannt werden, der weder von Begierden noch von Furcht erregt wird - wohlverstanden dank seiner vernünftigen Einsicht ... Das glückliche Leben gründet sich also auf ein richtiges und sicheres und keinen Schwankungen unterliegendes Urteil", sagt Seneca. Den Gebrauch der Vernunft muss man lernen. Macht Bildung glücklich?

Töchterle: Natürlich, das ist ganz klar, in der antiken Konzeption ist es Bildung. Wie sonst werde ich glücklich? Nur durch Bildung.

STANDARD: Macht Reichtum glücklich? Seneca hatte ein Vermögen von 300 Millionen Sesterzen. Ein Arbeiter verdiente vier Sesterzen am Tag.

Töchterle: Ja, Seneca war steinreich, und "De vita beata" hat er auch geschrieben, um seinen Reichtum zu relativieren. Denn Reichtum ist natürlich ein Adiaphoron - ob ich reich bin oder arm, ist wurscht für den Stoiker.

STANDARD: Für den reichen Stoiker sicher.

Töchterle: Epiktet war auch Stoiker, und er war ein freigelassener Sklave. Es gab schon auch den armen Stoiker. Der wahrscheinlich realistischste antike Glücksphilosoph war Aristoteles. Er hat gesagt, ein gewisser Reichtum ist fürs Glücklichsein besser, als arm zu sein. Er ist der große Telos-Philosoph. Telos, das Ziel. Aristoteles sagt, alles in der Welt ist auf ein Ziel hin ausgerichtet. Das Telos des Menschen ist: seinen Logos, den Verstand, der ihn von allem anderen unterscheidet, möglichst zur Entfaltung zu bringen. Am besten und schönsten geht das, indem man philosophiert. Darum ist das theoriegeleitete, philosophische Leben für Aristoteles die höchste Form des individuellen Glücks. Bei ihm ist der Bildungsgedanke als glücksstiftend vielleicht am schönsten formuliert.

STANDARD: Kann die Politik etwas beitragen zum Glück der Nation?

Töchterle: Ich glaube, das ist eine der wesentlichen Aufgaben der Politik, zum Glück der Menschen beizutragen. Ich würde fast sagen, sie ist dafür da. Platon oder Sokrates meinten, dass das Glück des Einzelnen wesentlich auf einem gerechten Staat beruht.

STANDARD: Der Philosoph Sir Karl Popper sagte: "Aber von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste."

Töchterle: Das ist typisch Popper. Der berühmte moderne Staatstheoretiker John Rawls wollte ein Staatssystem ersinnen, in dem einer möglichst großen Zahl von Menschen möglichstes Glück widerfährt. Mir gefällt sein Bild vom "Schleier der Unwissenheit", der sich vor den Politiker senken muss, damit er nicht egoistisch agiert, sondern altruistisch. Was soll man anderes wollen, als möglichst viele Menschen glücklich zu machen? Das ist das schlüssigste Ziel der Politik. Heute muss das global getan werden. Natürlich sollten wir auch an benachteiligte, arme Menschen denken. Wer macht sie glücklich?

STANDARD: Ist denn der Seneca-Experte Karlheinz Töchterle selbst auch Stoiker?

Töchterle: Seneca fasziniert mich wegen seiner sprachlichen Brillanz. Wenn man die antiken Glückslehren kennt, dann haben sie schon eine hohe Plausibilität. Das Plausibelste ist immer der Autarkie-Begriff. Eine gewisse innere Unabhängigkeit ist Glück. Sich nicht zu sehr an Dinge hängen und auch damit rechnen, dass Dinge, die einem ganz wichtig und teuer sind, unter Umständen gefährdet sind, zum Beispiel die Familie, ein gewisses inneres Wappnen gegen Unglücksfälle. Das nennen die Stoiker "praemeditatio malorum" - vorausdenken, dass es auch einmal schlechter sein könnte. Das ist aber sehr schwierig, denn wenn man es zu sehr tut, dann verdüstert es das gegenwärtige Glück.

STANDARD: Zum Schluss Frage 23 aus Max Frischs Fragebogen 1: Was fehlt Ihnen zum Glück?

Töchterle denkt nach.

STANDARD: Wunschlos glücklich?

Töchterle: Das Einzige, was mir zum Glück fehlt, ist, dass ich Mensch bin und nicht Gott, weil der Mensch kann nie wunschlos glücklich sein.

STANDARD: Und was fehlt Ihnen - zum Glück?

Töchterle: Da könnte ich wieder sagen: dass ich nicht Gott bin. Wenn ich Gott wäre, wäre ich nicht glücklich. Die Stoa kennt das Problem, nie ganz glücklich zu sein, macht sich auf den Weg zum Glück und sieht die Chance, Glücksmomente zu haben. Das ist der alte Heraklit, der sagt, dass die Dinge nur in ihren Gegensätzen bestehen. Ich kann nicht glücklich sein, wenn ich nicht unglücklich sein kann. (Lisa Nimmervoll, STANDARD-Printausgabe, 22./23.6.2011)