Kindergarten der St. Nikolaus-Stiftung in der Pulverturmgasse in Wien: Eine mobile Einsatztruppe stützt die Kleinen und berät die Großen.

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Adrian strahlt vor Stolz. "Schau, was ich schon kann", gluckst der Bub, als er behände aus der Holzkiste mit den blauen Plastikbohnen kraxelt. Über eine Rampe rutscht er auf den mit Matten ausgelegten Boden und rennt rüber zu den Plastilindosen. Eine Weile müht sich Adrian mit dem Deckel ab. Dann kletzelt er die zähe Masse heraus und presst sie mit der flachen Hand zu einem Fleck in Schnitzelstärke.

Was andere Fünfjährige als Klacks empfinden, ist für Adrian eine große Hürde. Vor wenigen Wochen noch saß er verloren in der Bohnenkiste, ratlos, wie er den kaum mehr als einen halben Meter hohen Rand überwinden soll. Weder gelang es ihm, einen Schraubverschluss zu öffnen, noch mit der Schere ein Stück Tixo abzuschneiden. Von der handtuchgroßen Polsterschaukel, die an vier Ketten von der Decke baumelt, plumpste er herunter, sobald jemand sachte antauchte.

Bei der Geburt war Adrian viel zu früh dran. Die ersten Tage verbrachte er mit Atemnot in der Intensivstation, den Rückstand hat er nie aufgeholt. Das nagt am Ego. Auf den Spielplatz traut sich der Blondschopf nur an den ruhigen Vormittagen, um nicht von ungeduldigen Kindern angestänkert zu werden, wenn er sich ungelenk die Rutsche hinaufplagt. Unlängst bemerkten die Eltern, dass sein Hintern mit blauen Flecken übersäht war. Piesacken ihn die Spielkameraden im Kindergarten, setzt sich Adrian nicht zur Wehr.

"Höchste Zeit, dass ihm jemand hilft", sagt Elisabeth Wagner. Ein fragiles Bürschlein mit geknicktem Selbstwertgefühl hat die Ergotherapeutin kennengelernt, als sie Adrian unter ihre Fittiche nahm. Einmal die Woche ist er nun im Kindergarten der St. Nikolaus-Stiftung in der Wiener Pulverturmgasse zu Gast, wo ihm Wagner Alltagsgeschick und - nicht nur körperlich - ein stärkeres Rückgrat antrainieren soll. Damit der Kleine sein Handicap nicht als psychischen Knacks ins Erwachsenenleben mitschleppt.

Um Kunden muss die 27-Jährige nicht bangen, der Andrang ist enorm. "Natürlich schauen wir heutzutage genauer hin", sagt Elmar Walter, Leiter der St. Nikolaus-Kindergärten, doch dass sich unter seinen Schützlingen immer mehr Sorgenkinder tummelten, lasse sich nicht wegreden. Von aggressiven Heißspornen, die beim kleinsten Anstoß zum Toben beginnen, berichten Walter und sein Team, von Einnässern, Essensverweigerern und "Teilmutisten", die sich stumm im Eck verstecken. Sie habe eine Familie erlebt, wo keines der vier Kinder den Mund aufbrachte, erzählt die Sonderpädagogin Gundi Neier, die als Wurzel "tiefe seelische Verletzungen" vermutet. Aus einem Vierteljahrhundert Berufserfahrung schließt sie: "Ja, es ist bedrohlich."

Den Zappelphilipp und den Hans-Guck-in-die-Luft, vom Psychiater Heinrich Hoffmann 1845 im Bilderbuch "Struwwelpeter" verewigt, habe es immer gegeben, sagt der Arzt Klaus Vavrik, doch heute registrierten Lehrer in jeder Klasse gleich drei, vier Problemfälle. Zehn bis 15 Prozent aller Kinder gerieten zumindest einmal in "psychische Problemlagen", schließt der Experte aus Untersuchungen, Tendenz steigend. Während aber für Bankenpakete wie selbstverständlich Milliarden flossen, sei von einem Kraftakt gegen die Krise in den Köpfen keine Rede, kritisiert Vavrik (s. unten): "Dabei ist es ein sozialer Tsunami, der am Horizont herandräut."

Zumindest in den 78 Krippen, Horten und Kindergärten der St. Nikolaus-Stiftung der Erzdiözese Wien hat der Dammbau begonnen. Seit eineinhalb Jahren kümmert sich eine mobile Krisenfeuerwehr von 25 Pädagoginnen, Psychologinnen und Therapeutinnen um verhaltensauffällige Kinder, bietet Eltern Beratung und Fortbildung an. Der Service kostet, sozial gestaffelt, maximal 20 Euro pro Monat, den Gratis-Kindergarten finanziert die Gemeinde Wien. Auf Wunsch gibt es Therapien und ein "Screening", das Entwicklungsdefizite aufspüren soll. Ehrgeiz der Erfinder: Jeder G'schrapp soll zumindest einmal den Expertenscan durchlaufen.

Die klassische Krisengeschichte existiere nicht, sagen die Betreuerinnen, die Symptome seien so vielfältig wie die Ursachen. "Ich habe Dreijährige erlebt, die überfordert in einer Wiese stehen", erzählt die Psychologin Birgit Steinbauer. Grünräume würden zubetoniert, Kinder vor Fernseher und Gameboy versauern - "doch Begreifen kommt eben von Greifen".

Überehrgeizige und Hilflose

Steinbauer kennt alle Extreme. Da gibt es die Überehrgeizigen, die Kleinkinder in Ballett-, Flöten- und Computerkurs steckten und ihnen Zeit zur Selbstfindung raubten; die Überforderten, die vor lauter Berufs- und Patchworkbeziehungsstress keine Muße für familiäre Rituale wie Kochen und Vorlesen fänden; und die Hilflosen, "denen ich erklären muss, warum Kinder Schere, Papier und Kleber brauchen". Aber für viele Eltern sei man nur die "Kindergartentante", die keiner ernst nimmt.

Sie könne nicht für alle die Ersatzmutter spielen, ergänzt die Pädagogin Neier - und hält die vermeintliche Patentlösung für einen Teil des Problems: "Wenn ein Kind ständig dem Lärm einer 25-köpfigen Gruppe ausgesetzt wird, dann ist das too much." Doch für mehr Betreuerinnen mache der Staat ebenso zu wenig Geld locker wie für kostenlose Therapieplätze, auf die Kinder ein Jahr und mehr warten müssten.

Adrians Eltern zahlen einen Selbstbehalt von 40 Euro, ihr Sohn kam schon nach einem halben Jahr dran. Beim Test ist er nicht nur durch "patschiges Laufen" aufgefallen. Zwar plappert der Knirps mit erstaunlichem Wortschatz los, kriegt mit dem Filzstift aber keine annähernd gerade Linie hin. Statt sich selbst zu zeichnen, lieferte er nur wildes Gekritzel ab. "Wenn er sich eine Aufgabe nicht zutraut", sagt die Therapeutin Wagner, "tut er so, als hätte er sie nicht verstanden."

Das soll sich ändern. Einen ganzen Parcours absolviert Adrian in einer Stunde, er balanciert mit einem Wasserglas eine abgeschrägte Bank hinauf, muss beim Schaukeln mit der Hand eine Glocke am Boden erwischen. "Stell sie näher!", bittet der Kleine, doch Wagner spornt ihn an. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Hole Adrian bis zur Schule nicht auf, sagt die Therapeutin, "brennt der Hut". (Gerald John, STANDARD-Printausgabe, 18.7.2011)