"Es ist schon seltsam, dass wir von diesen Vorgängen im Nachbarland keine Ahnung haben": Josef Haslinger.

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Josef Haslinger, "Jáchymov". Roman.
€ 20,60 / 272 Seiten. S. Fischer Verlag,
Frankfurt/Main 2011

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Bei den Olympischen Winterspielen vergangenes Jahr in Vancouver trug Ondrej Pavelec, der Torhüter des tschechischen Eishockeyteams, eine kunstvoll bemalte Torhütermaske. Auf die eine Seite hatte der Airbrush-Künstler David Gunnarson das Wappen der Tschechischen Republik mit seinen zwei Adlern und den beiden Löwen gesprayt. Die andere Seite zeigte in Sepiafarben einen Goalie aus lange vergangener Zeit. Gutaussehend, helmlos (wie damals gespielt wurde) steht er entschlossen in seinen massiven Lederschonern da und erwartet den Schuss.

Der Abgebildete wurde in den 30er- und 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zweimal Weltmeister sowie Olympiazweiter und galt als der beste Torhüter Europas. Später, viel später, wurden in Landskroun (Landskron), wo er als Bauingenieur gearbeitet hatte, eine Straße und das Hockeystadion nach ihm benannt. Sein Name: Bohumil Modrý.

Vom Leben und Sterben dieser tschechischen Eishockeylegende handelt Josef Haslingers neuer Roman - und von Jáchymov. Jener dem Roman den Titel gebenden Bergbau-Stadt im Erzgebirge, wo nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei politische Häftlinge in einem (von den Nazis übernommenen) Lager mit bloßen Händen Uranerz für die Sowjetunion "abbauen" mussten.

Unter diesen Gefangenen war auch Bohumil Modrý, der - wie die gesamte Eishockeynationalmannschaft - 1950 wegen Konspiration verhaftet und eingesperrt wurde. Nach seiner Amnestierung 1955 lebte er noch acht Jahre, bevor er an den Folgen der Verstrahlung starb. "Ein paar Jahre schien alles gut zu sein, dann haben wir ihm beim langsamen Sterben zusehen müssen", sagt seine Tochter im Buch.

Sie, eine 1946 geborene Tänzerin, die 1972 nach Wien flüchtete, ist es, die sich im Roman an das Schicksal ihres Vaters erinnert, aber auch ihre eigene Geschichte und die ihrer Mutter erzählt. Die Vatergeschichte hat die Tänzerin lange nicht losgelassen, auch in der Emigration nicht. Sie beschließt, auf den Spuren des Vaters nach Jáchymov zu fahren, um ihre quälenden Erinnerungen loszuwerden. Dort trifft sie einen Wiener Kleinverleger, Anselm Findeisen sein Name, der mittels einer Kur die Schmerzen seines Morbus Bechterev zu lindern und die immer stärker eingeschränkte Beweglichkeit zu erhalten hofft. Denn Jáchymov (aus dessen Uranpecherz Marie Curie das Radon isolierte) ist heute wieder ein für seine Radonbäder bekannter Kurort. Über den Zeitraum, in dem es das nicht war, die Zeit der Lager und des Gulag, wird weniger gern geredet.

"Dass Sie ausgerechnet dort Heilung finden, wo mein Vater krankgemacht wurde, ist schon seltsam", wird die Tänzerin, die Findeisen ob ihrer wilden Haarpracht für sich Struwwelpeter nennt, einmal sagen. Das findet auch der Verleger, der die Tänzerin bittet, ihre Geschichte aufzuschreiben - was sie nach langem Zögern auch tut.

An diesem Punkt, das Manuskript ist endlich beim Verleger eingetroffen, beginnt der Roman, der - auch - vom Weggehen oder Bleiben handelt, vom Schreiben oder Schweigen, vom Reden oder Leben. Der Leser erfährt viel vom Eishockey und seiner Entwicklung, penibel wird der sportliche Werdegang Modrýs nachgezeichnet und der Aufstieg einer Mannschaft geschildert, die vom sportlichen Aushängeschild zur vermeintlichen Staatsgefahr wurde, weil sie bei der "sich ausbreitenden Mode der Unterwürfigkeit" nicht mitmachen will.

Zudem hatte das Regime Angst, die Spieler würden früher oder später nach Auslandsspielen nicht mehr zurückkehren. 1950 schließlich lässt man die Mannschaft, zu diesem Zeitpunkt immerhin amtierender Weltmeister, nicht zur WM in England fliegen und stellt die Spieler vor Gericht. Auch Modrý, der zwar ein Jahr zuvor seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (weil er mit seiner Familie nicht zu einem Auslandsengagement in Kanada ausreisen durfte). Offenbar ist er von Mitspielern, deren "Geständnisse" zum Teil unter Folter erzwungen wurden, belastet worden. Der Staatsanwalt beantragt die Todesstrafe, weil sich der Torhüter mit dem Staatsbürger eines anderen Landes über die politische Lage unterhalten habe. Schließlich wird er zu 15 Jahren, der höchsten Haftstrafe aller Angeklagten, verurteilt. Fünf Jahre sitzt er ab, eines davon in Jáchymov, dann wird er rehabilitiert und findet für kurze Zeit in ein scheinbar normales Leben zurück.

Das klingt nach einem relativ einfachen Plot, den Haslinger allerdings erzähltechnisch und formal äußerst subtil ausfransen lässt, indem er immer neue Erzählschichten und Erinnerungsstufen freilegt. Zeitlich spielt der Roman auf verschiedenen, eng ineinander verwobenen Vergangenheits- und Gegenwartsebenen. Da ist einmal die Geschichte Modrýs, die von der Tänzerin in ihrem Manuskript, bei dessen Lektüre wir dem Verleger über die Schulter schauen, aufgeschrieben wurde. Ergänzt wird dieser Erzählstrang mit Verleger-Erinnerungen an das eigene Leben, an Gespräche, die er mit der Tänzerin führte und Reflexionen über seine unheilbare Bechterev-Erkrankung.

Das Manuskript geht dem Verleger nah, näher, als er denkt. Findeisen wuchs in der DDR auf, wo er Philosophie studierte und als Jugendlicher die Mauer verteidigte, weil es "diesen Glauben gab, diese Zuversicht auf eine gerechtere Zukunft, in der wir es der Welt zeigen wollten". Schließlich gerät er durch ein Missverständnis in die Mühlen der Justiz. Eine Freundin aus dem Westen hinterlegt einen Geldbetrag, er kann nach Westberlin ausreisen und geht 1973 nach Wien - wo er, der einst ein begnadeter Fallschirmspringer war, nun gegen den körperlichen Verfall, besser: die Versteifung der Wirbelsäule kämpft.

Der Verleger, von dem in der distanzierten Er-Form erzählt wird, ist so etwas wie die Relaisstation des Romans, bei ihm laufen die Fäden aus Vergangenheit und unsicherer Gegenwart zusammen. "Es ist schon seltsam, dass wir von diesen Vorgängen im Nachbarland keine Ahnung haben", sagt ein Freund, auf Jáchymov anspielend, zu ihm. Der Verleger antwortet: "Die einen wollten es nicht wahrhaben und die anderen haben solche Berichte gerne benutzt, um nicht vor der eigenen Tür kehren zu müssen."

Haslinger hat viele Essays darüber geschrieben, dass Vergangenheit - nicht nur in Österreich - deswegen nicht vergehen kann und einer Zukunft im Wege steht, weil sie nicht zur Sprache kommt. Den Jáchymov-Stoff, der auf Gesprächen Haslingers mit Modrýs realer Tochter, Blanka Modrý, beruht, trug er, wie Haslinger in einem Interview sagt, lange mit sich herum. Nun hat er das Buch, das von historischen Zäsuren, Lebensbrüchen, Totalitarismus, Spitzelwesen, Diffamierung und historischen Kontinuitäten handelt, geschrieben. Der Roman, in den auch kleine Ich-Erzählungen der Tänzerin - sie schrieb sie nach dem Tod ihres Vaters, um Halt zu finden - eingearbeitet sind, endet mit der Beerdigung Bohumil Modrýs - und mit einer langen Stille. "Meine Mutter wollte nicht", so die Tänzerin, "dass jemand spricht. Es wäre unmöglich gewesen, das Richtige zu sagen. Alle wussten, warum sie hier sind. Es auszusprechen, oder zu umschreiben oder anzudeuten, wäre nur eine Abschwächung gewesen." (Stefan Gmünder, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 13./14./15. August 2011)