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Edith Clever in der Rolle als Getrud in „GERTRUD:EIN TOTENFEST“

HERBERT PFARRHOFER/APA
Versuch einer Annäherung an eine untergehende Form der Kunstausübung Wien - Im thüringischen Sangerhausen, einem schlackenschwarzen DDR-Provinzkaff mit unebenen Kopfsteinen, genießt man eine sagenhafte Aussicht auf den Kyffhäuser. In dessen Innerem sitzt, einer Legende zufolge, der Kaiser Barbarossa und lässt seinen Bart um den Tisch herumwachsen. Man müsste in den Kyffhäuser hineinschauen. Wie viel schwerer ist es aber, in den Kopf einer Sangerhausenerin hineinzuschauen, in den Sturschädel von "Gertrud", der Mutter des maßlos genialen Eigenbrötlers Einar Schleef, dem 2001 jählings verstorbenen Gottseibeiuns des Sprechtheaters.

Der Mitte der 70er-Jahre aus der DDR in den Westen übersiedelte Schleef ließ bereits die ersten von ihm gedrillten Chöre brüllen, als er den zweiteiligen Roman Gertrud veröffentlichte: eine unnahbare Prosageröllhalde, bewegt von der (fiktionalen) Zunge der leiblichen Mutter; Sätze wie Binnenkriegserklärungen an eine schwer erträgliche Lebenswelt: "Betten übereinander. Reicht. Na noch das Kopfkissen. Der Unterrock klebt. Ausziehen. Mich hinlegen, langsam die Beine hochschieben. Höher. Kippe. Mensch."


Zweierlei Welten

Es scheint zunächst kaum verständlich, dass ausgerechnet die überfeinerte Sprechdarstellerin Edith Clever dieser betörenden, verstörenden Zyklopensprache Stimme wie Ausdruck leiht. Eine von Edith Clever in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Dieter Sturm erstellte Sprechfassung hat ab heute im Kasino am Schwarzenberg als Koproduktion mit dem Berliner Ensemble Premiere: Gertrud. ein Totenfest (20 Uhr).

Doch Ausdruck reicht bei weitem nicht hin. Bei Frau Clever, dem Schaubühnen-star, müsste man von "Antlitz" sprechen, von "Durchgeistigung". Ihr Antlitz von herber Schönheit ruht unverwandt auf dem Fragesteller, wenn der ihre Annäherung an Schleef ergründen möchte.
"Die Aneignung eines solchen in der Tat ungewöhnlichen Textes", hebt Clever an, "geht nur über eine gewisse Faszination, die man beim Lesen entwickelt. Es ist für mich ganz große Literatur: expressionistisch und stark an diese Landschaft gebunden - die Figur seiner Mutter, die dort ganz und gar verwurzelt war." Nun hatte Schleef seinerseits aus dem Roman einen "Monolog für Frauenchor" gezimmert: "Da war unsere Fassung schon fertig", erzählt Clever.

Er habe in seinem Dramatisierungsversuch "eine ähnliche Spur gelegt: diese Trauerarbeit, die Einsamkeit dieser Frau. Das kam meinem Interesse entgegen, mich mit Alter und Zerfall zu beschäftigen."
Nun hat Edith Clever in kongenialer Zusammenarbeit mit Regisseur Hans-Jürgen Syberberg den Sprachhimmel erleuchtet, mit Kleist, mit Hölderlin: nur auf das makellose Tönen ihres unendlich modulationsfähigen Organs gestützt. Eine hohe, schmale Priesterin, allein in deutscher Nacht, Schätze der Literatur ausbreitend wie Musselin. Die Vorwürfe der Apotheose "unseliger deutscher Denkungsart" kamen erwartbar.
Nun zündet sich Frau Clever eine Zigarette an: "Schleef kannte die Arbeiten von Syberberg und mir." Sie verengt ihre Augen. Man muss an eine Katze denken, und es fällt einem ein, dass sie ja in Salzburg die Cleopatra "gab".
Clever weiter: "Er konnte viel damit anfangen - sprachlich." Man grüßt - von einem Spitzenkunstgipfel (Syberberg) zum nächsten (Schleef).
Heute denkt Clever nicht ohne eine gewisse Bitterkeit daran, dass "nur mehr die Jugend" zählt: "Wer so wie ich höchst erfolgreich inszeniert hat - dem liefe man doch jetzt das Haus mit Angeboten ein!" Jetzt wird sie halt eine feste Gastprofessur an der Universität der Künste in Berlin angenommen. Kunst kann man überall produzieren. Clever: "Wenn man mich nicht will, muss ich es anders machen." Jugend. Ach.

Und Einar Schleef ist auch schon wieder zwei Jahre tot. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 28.05.2003)