Ausschnitt aus einer "Cesena"-Aufführung im Ehrenhof des Papstpalais in Avignon. In Graz wird es erstmals indoors gezeigt.

Foto: Hermann Sorgeloos

Graz - Festnageln lässt sich die Belgierin Anne Teresa De Keersmaeker um keinen Preis. Deswegen ist sie als eine der bedeutendsten unter den heute für große Auditorien arbeitenden Choreografinnen immer wieder für Überraschungen gut. Mit Cesena, ihrer neuen, vergangenen Juli beim erlesenen Festival d' Avignon im Ehrenhof des dortigen Papstpalais uraufgeführten Arbeit, die jetzt beim Steirischen Herbst erstmals in ihrer Indoor-Version zu sehen ist, sorgt sie wieder für Erstaunen.

Historisches Zwielicht 

Nicht so sehr, weil sie ihr Publikum in Avignon zusammen mit ihren Tänzern und den Sängern des Antwerpener Ensembles Grainsdelavoix unter der Leitung von Björn Schmelzer um halb fünf Uhr früh unter freiem Himmel zu einem Tanz in die anbrechende Morgenröte gesetzt hat. Oder weil zu dieser frühen Stund tatsächlich 2000 Besucher gekommen sind. Sondern eher, weil sie den Veranstaltungsort in seiner historischen Zwielichtigkeit mit atmosphärischem Zauber angreift und wie sie diesen Angriff auch noch transportabel macht.

Das französische Avignon war ab 1378 Ort des Gegenpapsttums nach einer Spaltung (Großes Abendländisches Schisma) der mittelalterlichen lateinischen Kirche, mit dem "Henker von Cesena" Papst Clemens VII. als Protagonisten. Vor seiner Papstweihe zeichnete Clemens für ein Massaker an rund 4000 Bürgern im italienischen Cesena verantwortlich.

Das Papsttum von Avignon war Resultat machtpolitischer Interessen und geprägt von dem Luxusleben der Kirchenfürsten auf Kosten der französischen Bevölkerung, gefolgt von einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung der Region. De Keersmaeker hatte sich den Beginn des Schismas mit der Rückkehr Papst Gregors XI. nach Rom zum Ausgangspunkt für das Stück gewählt, und Björn Schmelzer entwarf eine Musikdramaturgie auf Basis der historischen Ereignisse. Das Verbrechen von Cesena 1377 vergleicht er mit jenem in Srebrenica von 1995 mit 8000 ermordeten Bosniern.

Trotz dieser sehr konkreten Hinweise liefern Keersmaeker und Schmelzer kein tanztheatrales Historiendrama ab, sondern eine genau kalkulierte Struktur aus Musik, Tanz und Licht, unter deren Dynamik die historischen Ereignisse nachglühen wie Lava unter einer dünnen Steinkruste.

Cesena ist das Folge- und Schwesterstück von Keersmaekers vorjähriger Arbeit En Atendant, die bei Impulstanz 2010 in Wien zu sehen war, und wie diese beruht es ebenfalls auf der Musik der zwischen 1377 und 1420 praktizierten Ars subtilior, die unter anderem vom Papsthof in Avignon besonders gefördert wurde. Diese polyfone Musik kennzeichnete das Erodieren des Mittelalters und blühte gerade in der Zeit des Großen Abendländischen Schismas und des Hundertjährigen Krieges ab 1340. Während En Atendant auf der Bühne von der Abenddämmerung ins Dunkel der Nacht führt, erleben die Zuschauer bei Cesena den Übergang von der Finsternis ins Licht.

Beide Werke öffnen weite Assoziationsräume, in die ein Netz aus Spuren von großen Erzählungen gelegt ist, die das Publikum mit eigenem Wissen verknüpfen kann. In Cesena folgt es den Rosas-Tänzern, wie sie ihre Stimmen benutzen und den Sängern des Grainsdelavoix-Chors, wie sie ihre Bewegungen mit den Tänzern verbinden. In diesem Chor versteht sich jeder als Solist. Denn, wie Schmelzer sagt, ein Chor kann auch eine Art Tod sein, wenn er die Individualität der Sänger umbringt. Das passt zu Keersmaekers Tänzern, die alles andere sind als Teile einer entpersönlichten Truppe.

Auf eigenen Wegen 

Tänzer, die singen, und Musiker, die tanzen, sind keine Erfindung von De Keersmaeker. Doch sie bewegt sich auf einem eigenen Weg, auf dem seit gut einem Jahrzehnt intensiv erschlossenen Feld übergreifender Praxisformen auf der Bühne. In ihrem großartigen Stück The Song dauert es eineinhalb Stunden, bevor der erste Ton gespielt wird. Und in ihrem Solo Once sowie in ihrer Kooperation 3Abschied mit Jérôme Bel hat sie selbst gesungen und die ästhetisch-politische Ausdruckskraft ihrer ungeübten Stimme zum Einsatz gebracht.

Cesena ist in Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit Björn Schmelzer auch ein weiteres Kapitel in De Keersmaekers nun seit 2008 konsequent praktizierter Untersuchung der Musik mit choreografischen Mitteln geworden. Sehr konzeptuell und überaus sinnlich. (Helmut Ploebst, DER STANDARD/SPEZIAL - Printausgabe, 14. September 2011)