Wenn Tanzhüllen fallen: Das DV8 Physical Theatre gastiert beim nächsten impulstanz-Festival in Wien.

Foto: ImpulsTanz
Mit "Living Costs", einem Tanzprojekt des Choreografen Lloyd Newson, wird der Besucher auf eine Reise durch das Londoner "Tate Modern" geschickt. Er erlebt eine gut arrangierte Show über Kunst und Konsum.


Die Blicke der Zuschauer beginnen zu flackern, wenn die Tänzerin Kareena Oates aus den dunklen Weiten der riesigen Turbinenhalle der Londoner Tate Modern gelaufen kommt und dabei einen brennenden Hula-Hoop-Reifen um ihre nackten Hüften kreisen lässt. Das Spiel mit dem Feuer. Eine Paraphrase auf jene Spektakel, für die viele gerne bezahlen, weil dabei ein Kick entsteht. Da kommt mancher auf seine Rechnung. Das Risiko der Tänzerin ist im Preis der Eintrittskarte inbegriffen.

In Living Costs, der neuen Arbeit des englischen Choreografen Lloyd Newson und seinem DV8 Physical Theatre, geht es in Britanniens mächtigstem Großbau für zeitgenössische Kunst auch um den Tauschwert von Kunst und Entertainment. "Living Costs, eine Erforschung von Klasse, Kultur und Konfekt", locken pink Lettern auf dem Programmzettel. "Staunen Sie über das Hoop-Girl, werfen Sie lustvolle Blicke auf die Schönheitskandidatinnen, lassen Sie sich von dem fetten Tänzer faszinieren, sehen Sie, wer auf dem Weg nach oben ausscheiden muss!"

Und wer ließe sich nicht gern verführen! Die Performerin und Choreografin Wendy Houstoun gibt eine engagierte Führerin für die etwa 180 Leute starke Besucherschar ab, und nette Musik ölt über Kopfhörer die dankbare Gefühlsmechanik. Hoch über den Häuptern der Staungemeinde ein breites Fenster, dahinter wackeln fünf Clowns mit dem Charme von Mr. Pennywise, der kindermordenden Horrorfigur in der Verfilmung von Stephen Kings It.

Reißt sich einer von ihnen, Eddy Kay, die Maske vom Gesicht und beginnt zu schimpfen: "I hate this fucking job! Are we being watched? Where is my mimimum wage!" Und weiter geht's, zu einer Ziegfield-Follies-Show inklusive eines wahren Bergs von Tänzer. Die Follies müssen spielen. Wer von ihnen kann uns einen Socken oder eine Kreditkarte abluchsen? Zu den Tönen von Groove Armada ("I see you baby shaking that ass") produziert sich Kay vor einer Dunstwand, auf die eine Tänzerin mit delikaten Bewegungen projiziert wird, bis das "Original" aus der "Leinwand" springt wie der Filmheld in Woody Allens The Purple Rose of Cairo. Eine Reihe schöner Frauen rolltreppt an den Zuschauern vorbei.

Doch das stumme Auf und Ab dieses Beauty-Defilees wird so jäh wie kokett von dem beleibten Tänzer unterbrochen. Houstoun führt weiter aufwärts, und jede Etage der Tate bietet eine neue Überraschung, darunter das Tableau vivant mit einer nackten alten Frau, die ein Schild trägt: "Touch me!" Hinter ihr die Projektion eines tanzenden Schattens mit der Warnung: "Don't touch!"

Schließlich tanzen vier Tänzer die Karikatur eines modernen Balletts. Mitten in dieser aalglatten Groteske springt Eddy Kay auf, klatscht laut, zeigt "Fuck off" und geht. Da heben sich die Jalousien im letzten Stock der Tate und geben die Sicht frei auf die lichtumflutete St. Paul's Cathedral. So verschmelzen ein Tempel der Kunst und einer der Konfession, bis sich weitere Jalousien heben. Draußen vom vorgebauten Dach her winkt Kay, der wie lebensmüde auf dessen Begrenzungsmauer am Abgrund balanciert, bis ihn ein Security-Guy verscheucht.

Finaler Seitenhieb

Living Costs ist eine gut arrangierte Show über Show, Tanz, die Kunst und das Konsumieren. Eine Karikatur über Marktwerte an der Ästhetikbörse, eine Geisterbahnfahrt durch die Diskursschlösser von Bildlichkeit und Performanz mit einem finalen bösen Seitenhieb auf die Dekorativen im "modernen" Tanz.

Dass Lloyd Newson im Aufbau dieses Parcours Anleihen bei Meg Stuarts Projekt Highway 101 in Brüssel genommen hat, ist offensichtlich. Stuart bespielte vor drei Jahren zwei Architekturen mit ähnlichen Publikumsführungen. Nicht als Erste: Schon Allan Kaprow hatte 1959 in 18 happenings in 6 parts seine Zuschauer von Raum zu Raum dirigiert. Die Antwort des DV8-"Klons" als ironisches Gegenmodell zu dem überdramatischen Stuart-"Original" macht Sinn.

Living Costs ist das meisterhaft auf die Architektur der Tate zugeschnittene Derivat einer älteren Arbeit von DV8, The Cost of Living aus dem Jahr 2000, die im Sommer bei impulstanz im Burgtheater zu sehen sein wird. (DER STANDARD, Printausgabe vom 31.5./1.6.2003)