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Nah am Sturz von der Treppe, doch fest geerdet in einer unvergleichlichen Kunst: Edith Clever als „Gertrud“.

Foto: APA/Pfarrhofer
Mit dem Schleef-Solo "Gertrud. Ein Totenfest" feiert die Schaubühnen-Heroine Edith Clever die Kunstfertigkeit einer untergehenden Theaterwelt: ein betörender Abend im Kasino am Schwarzenbergplatz.


Wien - In Sangerhausen, in Sichtweite des thüringischen Kyffhäuser, wo die deutsche, demokratische Industrieschlacke in Kegeln aufgetürmt liegt, da liegt ein Hain. Da steht ein dürrer Pappelbaum, an seinem Fuß ein Bänkchen; da liegt ein sauber geharktes Kiesfeld, das ein Grab aus frischer Erde kalt umfriedet.
Hinter einem schwarzen Nebelschleier steht, den Rücken zum Publikum des Kasinos gekehrt, "Gertrud": ein schmaler Schatten, dessen Arme wie Äste die finstere Nacht durchschneiden. Edith Clever, die köstlichste aller Berliner Schaubühnen-Heroinen, ein Kind aus Wuppertal, ist im Einar-Schleef-Land für zweieinhalb Stunden gestrandet wie auf einem verwunschenen Eiland.

Ein sehrender, ziehender Schwall entquillt ihrem wortübermächtigen Mund, ein behändes Bedeutungswispern und quälendes Zauberraunen - und plötzlich ist Schleefs (1944-2001) kurzatmiges Satzbrocken-Weitwerfen, gesammelt in zwei Bänden Gertrud zu insgesamt 900 Seiten bei Suhrkamp in Frankfurt am Main, ganz grazil und kyffhäuserisch weltmächtig.

Ein Weltwahnwitz, weil der Zyklop Schleef seiner zarteren, aber umso zäheren Mutter sozusagen geschickt-unschicklich (zu) nahe trat: sie unverschämt einwickelte in einen Wörterkokon, den er ihr obendrein noch zum Abschmecken in den Mund legte.

Eine alte Witwe, deren "Willy" unter der Pappel liegt, deren Buben wenigstens nach Berlin davongerannt sind, hält Inventur: verzeichnet ihre Trauer, ihren unweigerlich bitteren Geschmack im Mund.

Sie sitzt an einem Tisch, auf einem viel zu kostbaren Teppich und zählt am Arm die Muttermale: als wäre ihre lederne, ausgezehrte Haut ein gestirnter Himmel.

Die Augen schmal geschnitten, den Mund gespitzt wie zu einem Erbrechen - aber es purzeln nur Kleinodien aus diesem unentwegt singenden, angstklirrenden Wesen, das die dünnen Haare zurückgebunden trägt, den schmutzstarrenden Arbeitskittel anfasst wie eine Zaubertuchbahn. Und seiner eigenen, vom Alterswahnsinn gezeichneten Verklärung entgegenschwebt wie einer unglaublichen, untraulichen Sterbensglücksverheißung.
Zu handeln ist vom vielleicht makellosesten Abend einer insgesamt doch arg durchwachsenen Burg-Saison - dem rücksichtslosen Umbiegen von Schleefs tönender Manie in ein unendlich verzärteltes, hochverfeinertes, zu Tode sublimiertes Kunstgewerbetreiben.

Das mutet vielleicht so fremd an wie ein Besuch in der Nasa-Raumfahrtzentrale - ist aber nur das geraffte und getragene Vermögen einer Kunst, die wohl unwiderruflich im Abendrot steht. Die mit diesem Solo, das Dramaturg Dieter Sturm in Koproduktion mit dem Berliner Ensemble eingerichtet hat, in einen gähnenden Kunstabgrund hinabstürzt. Nicht ohne den beklommenen Zuhörer kopfüber hinterherzustürzen. So süchtig macht, für gewitterschwüle Augenblicke lang, diese vergleichslose, in keinerlei "Diskurs" und keinem soziogrammatischen Kauderwelsch seicht wurzelnde Vergegenwärtigungskunst. Zum Schluss der Totenrede aber lädt Gertrud die Tochter, die sie sich gewünscht, aber niemals bekommen hat, an ihre kärgliche Königin-Witwentafel. Die Stafettenübergabe dieser unvergleichlichen Wortwirkungskunst steht noch aus. (DER STANDARD, Printausgabe vom 31.5./1.6.2003)