"Warten wir, bis die Menschen, die bei der Arbeitsvermittlung Schlange stehen, auf ihr Existenzminimum gekürzt werden. Die Amerikaner hielten sich lange Zeit für die Lieblinge der Götter: William H. Gass.

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Andreas Puff-Trojan sprach mit dem US-Autor über Schrecken, das Böse und Schreibprozesse.

STANDARD: Musik nimmt einen hohen Stellenwert in Ihrem Schreiben ein. Sie haben selbst gesagt, dass bei der Struktur des "Tunnels" Arnold Schönbergs Zwölftontechnik keine geringe Rolle gespielt hat.

Gass: Ja, Musik ist die Kunstform, die in meinen Arbeiten den wichtigsten Platz einnimmt - sei es auf die einzelnen Sätze bezogen, sei es die gesamte Struktur des Textes betreffend. Ich möchte, dass meine Prosa von einem zum nächsten Satz wie ein Gesang wahrgenommen werden kann, und dass die gesamte Textform - bis zum Ausklang - auf musikalische Weise erfasst wird. Was den Tunnel betrifft, so stehen die größeren, zusammengehörigen Elemente nicht als einzelne Kapitel für sich, sondern als zwölf "Leitmotive". In meinem neuen Roman, Middle C, ist die Hauptperson besessen, Sätze zu schreiben, die nur aus zwölf Tönen, zwölf Silben bestehen.

STANDARD: Im Original umfasst "The Tunnel" 650 Seiten, in der deutschen Übersetzung sind es nun mehr als 1000 Seiten geworden. Manche Kritiker sprechen von 25 Jahren Textarbeit, andere wiederum von 30 Jahren. Liegt die Wahrheit in der Mitte?

Gass: Ich begann mit der Arbeit am Roman, der vage dem entsprach, was Der Tunnel dann werden sollte, in den frühen 1960er-Jahren. Das waren aber bloß kleine, unverbundene Textpfützen. Beendet und auf Hochglanz gebracht habe ich den gesamten Roman 1994. Es gab aber einen ganzen Batzen Zeit, in der ich wenig am Text arbeitete. Bei all meinen literarischen Werken ist es immer dasselbe: Ich beginne in Unkenntnis des Kommenden und beende es mit Staunen. Ich warte auf den Text selbst, sodass er mir sagt, was zu tun ist. Ich weiß also nie, wie groß meine "Kinder" wirklich werden. Auf den Tunnel bezogen heißt das: Es brauchte Jahre, bis ich eine kohärente Textstruktur entstehen sah.

STANDARD: Die Hauptfigur im Roman "Der Tunnel" ist der Geschichtsprofessor William Frederick Kohler. Manche Kritiker sehen in ihm einen echten Faschisten. Ich denke, dass er intellektuell wie emotional eher hin und her pendelt. Er verschweigt, leugnet ja keineswegs das unvorstellbare Leid, dass den Juden in den Konzentrationslagern wiederfahren ist. Es verfolgt ihn durch den ganzen Roman. Doch er sympathisiert auch mit Nazigrößen wie Hermann Göring, mit dessen Verhalten bei den Nürnberger Prozessen. Was für ein höchst seltsamer Charakter ist Kohler?

Gass: Ich habe versucht, den Charakter meiner Hauptperson so zu gestalten, dass er den Menschen, wie er ist, widerspiegelt. Inmitten der wirklich bösen Überlegungen Kohlers gibt es auch freundlichere Aspekte. Ich möchte, dass die Leser auf den Romanseiten Elemente ihres eigenen Profils erkennen - und dabei ein wenig erschauern, vor Schrecken, Abscheu, aber auch Sympathie entwickeln.

STANDARD: Nach einiger Zeit beginnt Kohler im Roman unterhalb seines Hauses einen Tunnel zu graben. Das scheint ein endlos sinnloses Unterfangen zu sein. Es sei denn, der Tunnel steht für Kohlers Gefangenschaft, der er entkommen will - gefangen in seinem eigenen Leben, gefangen in der Geschichte des Faschismus und der Shoah.

Gass: Ist nicht so manches, was wir tun, endlos sinnlos? Kohler ist für mich ein "Jedermann" und all jene Bedeutungen, die Sie angesprochen haben, gehören zum Tunnelgraben. Trotzdem gilt: Wenn wir Löcher buddeln, dann haben wir manchmal vor, Gold zu fördern und nicht irgendwo anders hinzugehen.

STANDARD: Kohler sagt an einer Stelle im Roman: "Hitler - der Verhehler, der Lügner, der Heuchler, der Scharlatan, der Täuscher, der Schwindler, der Blender, der Manipulator, der Träumer, der Inszenator und Schmierenkomödiant schlechthin -, er war wahrscheinlich der ehrlichste Mann der Geschichte." Befürchten Sie nicht, dass Rezensenten und Leser solche Sätze heftig kritisieren werden?

Gass: Ach, wissen Sie, Kohler sagt eine Menge Dinge. Ich schenke ihm nicht immer Glauben.

STANDARD: Der Nukleus Ihres Romans bildet eine Art Theorie. Sie nennen das den "Faschismus des Herzens". Was ist das?

Gass: Mit "Faschismus des Herzens" meine ich die Summe kleiner Grausamkeiten, Alltagsgehabe, verdeckte Engstirnigkeit, leiser Sadismus. Das ist für mich das Saatgut des Bösen. Wenn das rechte Klima gegeben ist, dann werden diese Samen aufgehen. Immer und überall finden wir ausgesäte Felder. Was nun meine Figur Kohler betrifft, so werden Sie ja bemerkt haben, dass er nichts, aber auch nichts getan hat! Er hat Dinge gedacht. Das ist es. Und was die heutigen USA betrifft, möchte ich sagen: Obama ist das beste Beispiel. Er ist Präsident, und als solcher kann man ihn ablehnen, bekämpfen, ohne dabei als Fanatiker angesehen zu werden. Warten wir doch, bis die Menschen, die bei der Arbeitsvermittlung Schlange stehen, auf ihr Existenzminimum gekürzt werden. Die Amerikaner hielten sich lange Zeit für die Lieblinge der Götter - und zumindest die Weißen waren es ja auch.

STANDARD: Kohler ist nicht gerade ein Romanheld, mit dem man sich identifizieren möchte. Es gibt allerdings Ähnlichkeiten zwischen William F. Kohler und William H. Gass. Beide sind Universitätsprofessoren, Intellektuelle, beide interessieren sich für deutsche Geschichte und beide verehren Rainer Maria Rilke. Was sollen diese Entsprechungen dem Leser sagen?

Gass: Möglicherweise deuten sie auf den gängigsten Fehler hin, den Leser begehen können - nämlich den Autor im Buch zu suchen. Ich habe allerdings absichtlich Spuren gelegt, wie ich es in den meisten meiner Werke tue. Wie auch immer, ich bin ebenso sehr Kohler wie jedermann es ist. Ich habe geschrieben und ich schreibe, um etwas über die Menschheit zu verfassen. "Menschheit" ist eine Gattung, der ich angehöre. Und noch etwas Allgemeineres möchte ich sagen: Die menschliche Gattung ist ein Parasit auf dieser Erde. Tötet der Parasit sein Opfer, sterben beide.

STANDARD: Sie haben Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" übersetzt und das Buch "Reading Rilke" geschrieben. Sein berühmtes Gedicht "Der Panther" ist in Variationen im Roman "Der Tunnel" präsent. Weswegen spielen Rilke und die deutschsprachige Literatur allgemein bei Ihnen eine so gewichtige Rolle?

Gass: Das liegt daran, dass ich in jungen Jahren Thomas Mann verehrt habe. Im mittleren Alter war ich dann ganz und gar von Rilke und Hölderlin ergriffen. Und nun, im Alter, ist es Robert Musil. Man muss aber sagen: Deutschsprachige Literatur ist für mich keineswegs wichtiger als die französische.

STANDARD: Zwei österreichische Verlage, Residenz und Droschl, haben kleinere Werke von ihnen herausgebracht. Nun hat Rowohlt Ihren "Tunnel" publiziert. Sind sie froh, ja, vielleicht sogar stolz, am deutschsprachigen Buchmarkt präsent zu sein?

Gass: Ja, sicher bin ich glücklich darüber, auch stolz. Das gilt aber nicht nur für mich, sondern auch für andere amerikanische Autoren, die ich verehre, etwa William Gaddis.

STANDARD: Im Interview haben Sie einmal gesagt, das ideale Verhältnis zwischen dem Leser und einem literarischen Text sei eine "Liebesbeziehung". Sicherlich, "Der Tunnel" ist ein großartiges Werk, aber keine gefällige oder angenehme Lektüre. Welche Art von Liebesbeziehung könnte denn der Leser mit dem "Tunnel" eingehen?

Gass: Lieblingswerke können lebenslange Gefährten sein. Es ist nicht immer leicht, damit zu leben, aber Qualität überzeugt doch immer. Kafka ist mitreißend, Beckett ist amüsant, bewegend und klug. Ein Messer mag wunderschön von Hand gefertigt sein, trotzdem kann es Menschen töten. Tragödien von Shakespeare oder Sophokles sind himmlische Stücke. Es geht um die Darstellungskraft, nicht um bestimmte Taten, Handlungen.

STANDARD: Im Essay "Social and political contretemps" meinen Sie, dass der österreichische Autor Karl Kraus seinen Platz innerhalb der Gesellschaft gefunden habe, um seine Kritik am Ersten Weltkrieg richtig zu platzieren. Haben Sie, gerade mit dem Roman "Der Tunnel", etwas Ähnliches in den USA erreichen können?

Gass: Ich glaube nicht, dass irgendein ernst zunehmender Autor Amerikas eine solch starke Position hat einnehmen können - außer Mark Twain vielleicht. Wir alle werden ziemlich ignoriert. Und vielleicht verdienen wir es auch. Machen wir doch zum Schluss gemeinsam ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, wie Ihr Leben aussähe, wenn man alles, was Sie sagten, wirklich ernst nähme. Würden Sie das wollen? (Andreas Puff-Trojan, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 22./23. Oktober 2011)