Albert Dohmen (Wotan): Gott mit menschlichem Antlitz.

Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Wien - Christian Thielemann in Wien - das bedeutet, kaum dass die ersten Millimeter seiner Stirnlocke im Scheinwerferlicht erscheinen, Ausnahmezustand. Ein Aufnahmezustand war für jenen Ring-Zyklus, den der deutsche Kapellmeister gerade an der Wiener Staatsoper absolviert, ebenso geplant gewesen - der Mitschnitt scheiterte allerdings an internen Querelen. Und so darf man nach wie vor auf die letzte Bayreuther Produktion von Wagners sagenumwobener Tetralogie zurückgreifen, wobei sich ein direkter Vergleich mit der Wiener Aufführungsserie fast aufdrängen würde.

Denn gemessen an seinen früheren Dirigaten schien Thielemann bei der Walküre am Sonntag ungleich abgeklärter und klassizistischer zu agieren als zuvor. Zu sagen, dass sich ein Hardcore-Dionysiker da zum Appoliniker wandelt, wäre vielleicht übertrieben. Ein Zug weg von rauschhafter Affirmation und hin zu maßvoller Zurückhaltung war freilich doch zu verspüren, als das Staatsopernorchester da in schönster Homogenität und mit hochkonzentrierter Emphase musizierte.

Spätestens beim "Walkürenritt" war Thielemann dann freilich wieder der Alte: Der Beginn des 3. Akts wurde martialisch durchgepeitscht, als gäbe es da nur straffe Gleichförmigkeit der Rhythmen und keine übergeordnete Entwicklung, Atem und Phrasierung blieben weitgehend auf der Strecke. Dafür holte der Maestro mit dem zweifelhaften Geschmack auf dem Höhepunkt zu einem gemessenen Tempo aus, als gälte es, tatsächlich eine Armee zu befehligen und nicht bloß eine imposante Schar kämpferischer Damen zu illustrieren, die in Sven-Eric Bechtolfs praktikabler, psychologisierender Inszenierung hilflose Anzugträger zwischen Pferdeattrappen zur Strecke bringt.

Ansonsten aber ließen Dirigent und Orchester durchaus das Bemühen erkennen, sich dem Geschehen auf der Bühne ein- (nicht: unter-)zuordnen. Und da gab es, wollte man auch diese Ebene mit dem sehr durchwachsenen Ensemble in der genannten letzten Bayreuther Realisierung vergleichen, ungleich mehr an sängerischem Profil, an Gleichklang zwischen Musik und Szene.

Die zwei großen Frauenfiguren verlegten ihre Verzückungen an den Rand von Hysterie und Wahnsinn. Hausdebütantin Katarina Dalayman stemmte die Partie der Brünnhilde mit heroischer Kraft (und einem guten Kompromiss aus Schrillem und Schönem), Waltraud Meier gab die Sieglinde als stimmlich sehr ausgeglichene, ansonsten leidenschaftlich aufgewühlte Lyrikerin.

Zusammen mit Christopher Ventris als solidem, strahlendem, wenn auch darstellerisch nicht allzu flexiblem Siegmund sorgte sie mit für die dichtesten Szenen des Abends, denen nur noch Albert Dohmen Konkurrenz machte, wenn er seinem wortbetonten Wotan Wärme, Tiefe und ein menschliches Antlitz verlieh - nicht nur, aber besonders bei der Abschiedsszene mit Brünnhilde. Am Ende Jubel für alle, der größte naturgemäß für den Frackträger - Ausnahmezustand eben.  (Daniel Ender / DER STANDARD, Printausgabe, 8.11.2011)