Wien - Der Unruheherd in der neuen Kinderproduktion des Burgtheaters heißt Tinkerbell (Mavie Hörbiger): ein allerliebst bestrumpftes Feenwesen mit den Rüpelmanieren eines holländischen Bierkutschers, der Gift und Galle spuckt.

Besagte Zauberin bildet das Herzstück in Annette Raffalts bezaubernder Inszenierung von James Matthew Barries Peter Pan. Der Schotte Barrie, der den Kindern zeitlebens von ganzem Herzen zugetan war, gehört in die illustre Reihe der bedeutenden Staatengründer. In seiner Wolkenrepublik "Nimmerland" genießen elternlose Kinder, die das Wachstum verweigern, eine Art Bleiberecht: Ausstatter Bernhard Kleber hat ein drehbares Eiland auf die Burgbühne gestellt, in dessen Winkeln und Nischen jeweils Indianer, Piraten, Nixen und Kinder Asyl finden. Sterne fallen wie glühende Punkte aus dem Schnürboden herab, eine Sirene mit Hirschgeweih entlockt ihrer Kehle wundermilde Töne.

So vergisst man beinahe, was für eine grauenhafte Hölle zwischen den Wolken Mister Barries Fantasieprovinz im Grunde darstellt: ein Bürgerkriegsland, in dem tickende Krokodile handamputierten Piratenkapitänen (Dietmar König) nachsetzen und Indianerinnen (Jana Horst als "Tigerlilly") erotische Zurückweisungen erfahren. Kinder und Indianer bilden eine fragile Kriegskoalition; Käpt'n Hook ist ein Warlord, den die böse Unterhaltungsindustrie (Fluch der Karibik!) mit dem ach so schönen Johnny Depp um sein Alleinstellungsmerkmal gebracht hat. Nein, dieses Nimmerland ist ganz bestimmt kein idyllischer Winkel, seine Bewohner sind allesamt Neurotiker, Hanswürste und Kriegsversehrte, und man versteht im Nu, dass die patenten Londoner Kids Wendy (Lilian Amuat) und Mike (Peter Miklusz) recht bald nach Hause wollen, heim zu Mama und Papa.

Dort warten zwei der prächtigsten Schauspieler in dieser feinen Produktion: Mrs. Darling (Petra Morzé) und ihr Mann (Hans Dieter Knebel), deren völlig verkorkste Ehe es offenbar mit sich bringt, dass er in der Hundehütte haust. Ein Tusch für den eckigen Peter Pan (Markus Meyer), ein Sack Zauberstaub für alle Beteiligten. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 22. November 2011)