Was die Uni in die Waagschale zu werfen hat, ist ihre Unabhängigkeit von äußeren Machtfaktoren, sagt Professor Jochen Hörisch, der mehr Liebe für die entromantisierte Alma Mater fordert.

Foto: Dietrich Bechtel

Jochen Hörisch hat schlohweißes Haar und natürliche Autorität. Den Ordinarius kauft man ihm sofort ab. Dem Germanisten liegt jedoch fern, von seinen Studenten zu verlangen, ihn mit hochgestochenen Titeln anzusprechen. Im Informellen sieht er das Potenzial für eine funktionierende Hochschule. Mit Die ungeliebte Universität schrieb er eine Plädoyer zur "Rettung der Alma Mater". Das war 2006. Dem UniStandard erklärt er, wieso seine "Schimpfrede" leider noch immer gültig ist.

UniStandard: Sie schrieben über das "Ach" im Diskurs über die Universität, dass es von einem romantischen zu einem leidenden Ausruf wurde. Liegt es heute noch auf Ihren Lippen, wenn Sie von der Uni sprechen?

Jochen Hörisch: Ach ... ja. Dabei bin ich kein grantiger alter Professor. Die Universität war immer - wie die katholische Kirche - reformbedürftig. Der Kern meiner Kritik ist, dass sie heute die Impulse, die sie stark machen, preisgegeben hat. Sie ist nur dann stark, wenn sie selbstbewusst als eine unzeitgemäße Institution auftritt, die nicht Moden und Beratungsagenturen hinterherhechelt.

UniStandard: Mehr als fünf Jahre ist es her, dass Sie Ihr Buch mit " Rettet die Alma Mater!" untertitelten. Was ist in dieser Zeit zu ihrer Rettung gemacht worden?

Hörisch: Ich würde von der Diagnose nichts zurücknehmen. Einiges sogar noch verschärfen. Etwa was die Verrücktheit bei der Drittmittelakquisition angeht: Ein deutscher Professor verbringt zu viel Zeit mit Antragsprosa. Dazu kommt, dass die jetzige Studentengeneration völlig sachlich und entromantisiert ist. Für sie ist die Uni eine Ausbildungsinstitution wie andere auch. Sie sieht im Studium nicht mehr die schönste und intellektuell aufregendste Zeit, sondern einen pragmatischen Lebensabschnitt, den man schnell hinter sich kriegen muss, indem man ECTS-Punkte erwirbt und Module abklappert. Die Universität ist geradezu brutal entromantisiert worden. Das schadet ihr, weil die psychische Energie - und die kam aus dieser Romantik - völlig verschwunden ist.

UniStandard: Sie betonen das "phil." der Geisteswissenschaften. Liebe als Rettungsanker der Unis?

Hörisch: Die Uni muss eine geliebte, romantische Institution sein. Mit Derrida gesprochen: Sie muss eine unbedingte Universität sein, also von äußeren Machtfaktoren unabhängig. Das ist, was sie in die Waagschale zu werfen hat. Anderes können Wirtschaft, Politik, Beratungsagenturen oder Fachhochschulen viel besser. Die Uni weiß nicht mehr, was sie von diesen anderen Institutionen unterscheidet. Sie nimmt sich selbst nicht mehr ernst. Es wird nicht mehr rezipiert und kritisiert, sondern nur noch indiziert. Das ist auch das Problem der, teils wahnwitzigen, Universitätsrankings. Sie klappern Kennzahlen ab, aber sehen nicht hin. Da bin ich böse mit meiner Kritik: Der ganze Uni-Betrieb ist absolut oberflächlich geworden.

UniStandard: Das ist, was Sie das Potemkin'sche Uni-Dorf nennen?

Hörisch: Genau. Ich mache mich über die Formulierung, man sei "gut aufgestellt", lustig. Sie ist verräterisch: Die Fassaden sind aufgestellt, und wenn man anklopft, fallen sie um.

UniStandard: Bologna hat ja überhaupt ein eigenes Vokabular.

Hörisch: Ja, es kommt stark aus der Sphäre der Ökonomie und der Verwaltung. Effizienz, Input, Output, Verkürzung der Zyklen - das ist McKinsey-Speech. Früher gehörte der Begriff "Muße" in jede Festrede. Heute hat die Uni nichts weniger als Muße. Man hechelt von einem Sitzungstermin zum nächsten, um Allianzen zu schmieden, Konkurrenten auszustechen und zu erörtern, wie man von Platz 17 auf 13 der Ratingliste kommt.

UniStandard: Was zeichnete die "alte" Uni aus?

Hörisch: Sie setzte auf Verlangsamung und Aufmerksamkeit für das Abwegige. Sie gab Außenseitern eine Chance. Denken Sie an die Relativitätstheorie. Eigentümlich ist heute, dass, während sich die Uni immer mehr an Industrieunternehmen orientiert, erfolgreiche Unternehmen immer mehr wie die alte Universität funktionieren. Es herrscht dort eine ähnliche Liberalität wie früher im internen Uni-Betrieb.

UniStandard: Das Humboldt-Ideal ist also Vergangenheit?

Hörisch: Es gibt "feudale Inseln": die teuren Privatuniversitäten. Aber das ist für viele unerreichbar, weil zu teuer. Ich bin kein radikaler Linker, aber ich bin links genug, um zu sagen, das ist falsch, wenn man das nur für einen kleinen, aristokratischen Kreis hat.

UniStandard: Wie setzen Sie diese Ideale in Ihrem Uni-Alltag um?

Hörisch: Mit ganz einfachen Mitteln. Ich gehe mit meinen Studenten ins Theater oder wandern und versuche nicht alles per E-Mail, sondern persönlich zu klären. In einem Massenfach wie Germanistik bleibt es da oft beim guten Vorsatz, aber ich versuche es.

UniStandard: Haben Sie dazu konkrete politischen Forderungen?

Hörisch: Die Drittmittelgeschichten zurückfahren und stattdessen die Leistung als Kriterium nehmen. Die Gremienarbeit zurückfahren und wieder eine wissenschaftliche Binnenkommunikation einführen. Es sollte verbindlich sein, mit seinen Kollegen essen zu gehen, um sich über Projekte auszutauschen. Die Uni kann auf der rituellen Ebene traditionell und - nehmen Sie das als Kompliment an Österreich - sehr zeremoniell sein. Man spricht sich mit Titel an und sagt: "Küss die Hand, gnädige Frau!" Aber intern war die Universität informell, und das muss sie wieder lernen. Heute ist sie formalisiert wie eine große Behörde. (Julia Grillmayr, UNISTANDARD, Printausgabe, 8.3.2012)