Wie lebt man als Bilderfinder, der sich die Welt mit dem Kamerastativ vom Leibe hält? Martin Schwanda in "Camera Clara oder Wie man leben muss" , demnächst auch in Wien.

Foto: Kostohryz

Das Stück "Camera Clara" übersiedelt von Luxemburg nach Wien.

Einer der verblüffendsten neuen Stücktexte der laufenden Saison wurde soeben in Luxemburg uraufgeführt: im Kapuzinertheater der städtischen Bühnen, einem kleinen Haus, das gut versteckt liegt im Gewirr blitzblanker Einkaufsstraßen. Über Camera Clara oder Wie man leben muss lässt sich weniges mit Gewissheit sagen. Als Autorin wird im Programmheft der Name einer gewissen "Anna Poloni" angeführt. Anna Maria Krassnigg, die Wiener Regisseurin der Uraufführung, spricht von Frau Poloni wie von einer lieben Bekannten: Die Dame sei Romanistin und sehr gebildet.

Die Seite des Verlagshauses Jussenhoven & Fischer bringt vorderhand auch nicht mehr Licht in die Angelegenheit. Poloni sei zweisprachig in "Syrakus, Rom und Wien" aufgewachsen. Sie arbeite gelegentlich als Übersetzerin "sowie als Trauer- und Festrednerin". Überflüssig hinzuzufügen, dass der Theaterverlag kein Porträtfoto der mysteriösen Dramatikerin ins Netz gestellt hat.

Camera Clara erzählt genau davon: Die fotografischen Abbilder der Menschen sind nicht nur Gegenstände wohlgefälliger Betrachtung. Mit dem Dokument des entschwundenen Augenblicks hält der Beschauer zugleich eine Verlustanzeige in Händen. Auf dem Theater, dem Medium der Flüchtigkeit schlechthin, wurde lange nicht mehr so verknappt poetisch über die Furie des Verschwindens nachgedacht wie in dieser Aufführung, die Mitte des Monats nach Wien übersiedelt und ab 15. März im Salon 5 in Rudolfsheim-Fünfhaus zu bewundern ist.

Mit einer wütenden Verlustanzeige beginnt auch das Stück: Eine zornige junge Dame mit roter Glanzledertasche (Kirstin Schwab) reißt im Atelier des Fotografen und Einsiedlers Marek (Martin Schwanda) einen Packen Fotos an sich: "Du erbärmlicher Frosch! Du bist nichts. Du bist das Nichts." Zwei Galeristen blicken mit amüsierter Distanz auf das Geplänkel. Auf einem Liegeblock in diesem nachtfinsteren Traumland (Bühne: Andreas Lungenschmid) erwacht die Urheberin der garstigen Begebenheit: Karen (Petra Gstrein), Mareks Schwester und Kindheitsgefährtin.

Mensch und Kamera

Camera Clara handelt auf trickreiche Weise vom bezaubernden Schwindel der Kunst: Marek verdammt sich von frühester Kindheit an zur Eigenbrötelei. Er zieht sich in die geschwisterliche Wohnung zurück; dort sperrt er das Atelierfenster sperrangelweit nach draußen auf. Der Mensch Marek wird zum Anhängsel seiner Leica, deren Objektiv er aus der Tiefe seiner klösterlichen Abgeschiedenheit hinaus ins Freie richtet.

Als Provokateurin und Verbindungsperson zur Alltagswelt fungiert das Schwesterherz. Gstrein spielt die leichtsinnige Lebefrau in moussierender Sektlaune. Ihre Liebhaber, darunter auch ein zynischer Händler (Luc Feit), dringen wie Störenfriede in einen magischen Kunstbezirk ein, dessen unfruchtbares Klima klar inzestuösen Ursprungs ist.

Man stellt sich unwillkürlich vor, dass Anna Poloni, so es sie denn wirklich gibt, mit wehendem Haar auf einer Klippe in der Bucht von Syracusa steht, um als Trauerrednerin den Untergang der schönen Künste zu predigen. Ihr eigentümlich wortkarges Konversationsstück, dessen schöne Schlusspointe nicht verraten sei, atmet noch die Luft des europäischen Kunstkinos, wie es einmal, vor langer Zeit, war: Als Regisseure wie Michelangelo Antonioni oder später Peter Greenaway über Bildinhalte meditierten, über das Zustandekommen der Wahrheit und über die Schuld, die in der unschuldigen Erregung interesselosen Wohlgefallens beginnt, um in schmutzige Begehrlichkeiten zu münden.

Mit dieser Koproduktion hat Anna Maria Krassnigg eine überzeugende Visitenkarte in eigener Sache abgegeben. Sie hat mit Camera Clara und dem musikalisch furiosen Shakespeare-Songabend Power to Hurt (mit Raphael von Bargen als Bluesshouter) das Benelux-Städtchen "gerockt". Jetzt gilt es nur noch, sich der flüchtigen Erscheinung von Anna Poloni zu bemächtigen, ehe diese in den Tiefen der Anonymität versinkt. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 10./11.3.2012)