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"Heute schreibt man Weblogs und E-Mails statt Tagebücher und Briefe", sagt die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak. Sie hat eine Studie über den Wandel der deutschen Sprache erstellt und unter anderem Maturaarbeiten aus dem Jahr 1970 mit jenen von 2010 verglichen. Das Ergebnis: Die Sätze sind heute kürzer und die Verwendung von Anglizismen häufiger, es gibt mehr Fehler bei Satzzeichen und die Schülerinnen und Schüler haben Probleme, Redewendungen und feste Fügungen korrekt zu verwenden. Wodak sieht darin aber nicht nur Negatives: "Oft herrscht diese Angst vor, dass die Sprache untergeht. Das stimmt so nicht, sondern sie wird anders." Das bringe auch viele Vorteile, so Wodak.

Warum sie die seltenere Verwendung des Genitivs als "Abgrenzungsphänomen im Zuge der österreichischen Identitätsbildung" bezeichnet und was Journalistinnen und Journalisten heute anders machen als 1970, sagt sie im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Um den Wandel der deutschen Sprache festzustellen, haben Sie Maturaarbeiten von 1970 mit jenen von 2010 verglichen. Was machen 18-Jährige heute anders?

Wodak: Die Sätze sind kürzer geworden, der Wortschatz ist weniger elaboriert. Es haben viele Anglizismen Eingang gefunden. Das ist gut erklärbar durch die technische Innovation. "E-Mail" wäre so ein typisches neues Wort, um ein Beispiel zu nennen.

derStandard.at: Die Verwendung der Anglizismen ist ein Zeichen der Zeit - übertreiben es die Schüler damit?

Wodak: Es kommt natürlich auch sehr auf den Themenbereich an. Manchmal werden neue Begriffe notwendig. Wichtig ist auch festzustellen, dass die Sätze der SchülerInnen zwar kürzer geworden sind, aber auch komplexer. Das messen wir an der Vielzahl der Relativsätze oder der untergeordneten Sätze. Allerdings ist es schwer zu interpretieren, warum das so ist.

derStandard.at: Die Schüler verwenden mehr Schachtelsätze?

Wodak: Ja, und das ist natürlich per se weder gut noch schlecht. Gleichzeitig gibt es eine Abnahme an festen Fügungen und Phraseologismen und ein Zurücktreten der Bildungssprache als stilistischem Orientierungspunkt.

derStandard.at: Stattdessen gibt es also mehr Umgangssprache?

Wodak: Ja, ganz deutlich manifestiert sich zum Beispiel der Genitivschwund. Das ist im österreichischen Deutsch ja im Prinzip auch okay. Zum Beispiel sagt man "Die Zunahme von den Problemen" statt wie früher auf Hochdeutsch "Die Zunahme der Probleme".

derStandard.at: Woran liegt das, dass die Genitivkonstruktionen unattraktiver werden?

Wodak: Das ist ein Element des österreichischen Deutsch. Es gibt hier einen Wandel, den wir seit 1945 beobachten, ein Abgrenzungsphänomen im Zuge der österreichischen Identitätsbildung: Es gibt eine Fokussierung auf das sogenannte österreichische Deutsch. Der Genitivschwund wird also als Norm akzeptiert. Das ist ein akzeptierter Wandel, begründet durch die Identitätsbildung ab 1945. Es ist interessant und wichtig, solche Bezüge herzustellen.

derStandard.at: In Ihrer Studie schreiben Sie, die Lehrer würden weniger streng korrigieren als 1970. Woran liegt das?

Wodak: Das hängt auch mit der Akzeptanz der österreichischen Norm zusammen. Aufgrund der neuen theoretischen Entwicklungen innerhalb der Sprachwissenschaft wird man mehr auf Textkompetenz geschult als nur wie früher auf das Feststellen von Rechtschreibfehlern. Man hat auch den richtigen Sprachgebrauch heute mehr im Auge als nur punktuelle Rechtschreibung. Natürlich bleibt die Rechtschreibung sehr wichtig, aber eine adäquate Textsortenkompetenz ist mindestens ebenso wichtig. Man muss wissen, wie man einen Brief richtig schreibt, wie man eine Rechnung stellt, wie man eine Schilderung im Gegensatz zu einer Bildbeschreibung im Gegensatz zu einer Erzählung usw. formuliert. Auf diese Sachen wird heute wesentlich mehr Wert gelegt.

derStandard.at: Gibt es eine fehlende Disziplin der Schülerinnen und Schüler - etwa beim Erlernen der Zeitenfolge?

Wodak: Die Zeitenfolge hat sich überall, auch in anderen Sprachen, verflacht. Zeitenfolge, Konjunktivbildung - der richtige Gebrauch solcher grammatischer Elemente ist in vielen Bereichen zurückgegangen. Auch im Englischen oder im Französischen. Wir sind in unserem Sprachverhalten insgesamt "mündlicher" geworden. Es gibt natürlich noch sehr formale Situationen: Formbriefe, Prüfungen, Zertifikate, das ist klar. Insgesamt ist man aber heutzutage dialogischer und adressatenorientierter. Das ist daher wirklich spannend, wenn man Geschäftsbriefe oder Geschäftsberichte von früher mit den heutigen vergleicht. Heute werden Kundinnen und Kunden persönlich angesprochen. Früher war das ein trockener und sachlicher Bericht.

derStandard.at: Welchen Faktor spielt die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit?

Wodak: Natürlich ist das ein wichtiger Faktor. Sprache hat sich verändert, seit neue Genres wie E-Mail und Blogs etwa in die Kommunikation Einzug gehalten haben. Früher gab es Tagebücher und Liebesbriefe. Diese Genres werden jetzt seltener; es wird alles wesentlich stärker auf elektronische Kommunikation verlagert. Heute schreibt man Weblogs und E-Mails statt Tagebücher und Briefe.

derStandard.at: Das klingt alles oft sehr negativ. Hat diese schnelle Kommunikation nicht oft auch Vorteile?

Wodak: Genau. Das ist mir sehr wichtig, das auch so zu sehen. Es ist nicht nur der Fall, dass wesentliche kommunikative Faktoren wegfallen. Oft herrscht diese Angst vor, dass die "deutsche Sprache" untergeht. Das stimmt so nicht, sondern sie wird eben anders. Die wesentlichen Funktionen bleiben erfüllt, sie haben sich nur teilweise verändert.

derStandard.at: Neben der Zunahme von Anglizismen sind bei den Schülern auch Fehler bei den Satzzeichen häufiger geworden. Welche Rolle spielen die neuen Medien bei der Veränderung der Sprache?

Wodak: Natürlich haben die neuen Medien Einfluss. Aber es gibt verschiedene Erklärungsmodelle, warum Satzzeichen oft ein Problem darstellen. Aufgrund der letzten Rechtschreibreform kennt man sich manchmal einfach nicht mehr aus.

derStandard.at: Würden Maturanten von 2010 die Matura im Jahr 1970 bestehen?

Wodak: Manche ja, manche nein. Das kann man schwer kontextlos vergleichen. Heute gibt es einen ganz anderen Wissensstand. Vielleicht setzt man heute andere Prioritäten, aber insgesamt würden die meisten SchülerInnen sicher die Matura bestehen.

derStandard.at: Sie haben ja nicht nur Maturaarbeiten untersucht, sondern auch Zeitungen von 1970 mit jenen von 2010 verglichen. Bestätigt sich der Wandel der Sprache in den Medien?

Wodak: Die Deutsch-Maturaarbeiten waren nur ein kleiner Teil unserer Untersuchung. Mein Ausgangskonzept war, dass wir in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft verschiedene Textsorten untersuchen. Ich bin davon ausgegangen, dass sich die Sprache kontextbedingt jeweils unterschiedlich wandelt. Meine Hypothese war also, dass sich Sprachverhalten und Sprachgebrauch im Bildungsbereich anders gewandelt haben als im Medienbereich, und im Medienbereich wiederum jeweils unterschiedlich in den verschiedenen Ressorts. Es gibt stark themenbezogene und bereichsbezogene Unterschiede.

derStandard.at: Hat sich Ihre These bestätigt?

Wodak: Ja, man kann nicht allgemein von einem gleichförmigen und gleichzeitigen Wandel sprechen. Es ist tatsächlich so, dass der Wandel ganz unterschiedlich in den unterschiedlichen Textsorten zu bemerken war.

derStandard.at: Was machen Journalisten heute anders als 1970?

Wodak: Die Sprache in manchen Zeitungen ist narrativer und weniger komplex geworden. Das gilt aber auch nicht für alle Bereiche. In den Kulturnachrichten ist sie zum Beispiel komplexer geworden. Hier werden mehr Fremdwörter verwendet als in Außen- und Innenpolitik. Natürlich stellt sich die Frage, warum das so ist. Ob die Intellektualität oder weitreichenderes Wissen vor allem im Kulturbereich zählt? Ob die Redakteure hier anders geschult werden? Da sind noch viele Fragen offen, wo wir mehr Forschung brauchen.

derStandard.at: Sie haben auch herausgefunden, dass es heute mehr Bindestrich-Komposita "im Stil der 'Kronen Zeitung'" gibt. Was genau kann man darunter verstehen?

Wodak: Es werden mehr Bindestrich-Komposita verwendet und dadurch auch neue Begriffe geschaffen. "Kinderporno-Verdacht" ist ein gutes Beispiel. Eigentlich meint man damit "Verdacht auf Kinderporno". Die Zuordnung ist bei diesen Bindestrich-Komposita oft nicht so ganz einfach. Es ist manchmal schwierig festzustellen, welche Präposition durch einen Bindestrich quasi ersetzt wurde: Verdacht für, auf, zu ...? Das ist eine Verkürzung, die man erst richtig entschlüsseln muss.

derStandard.at: Hier spielen wahrscheinlich auch Platzgründe eine Rolle.

Wodak: Das ist sicher nicht das ausschlaggebende Moment. Auch hier spielt die Vermündlichung unserer Sprache eine Rolle.

derStandard.at: In der "Kronen Zeitung" haben auch vulgäre Ausdrücke zugenommen.

Wodak: Ja, das ist auch ein Zeichen dafür, dass mehr Umgangssprache einfließt. Begriffe, die man früher nicht öffentlich verwendet hätte, finden plötzlich Eingang. Das weist auf eine gewisse Veränderung von Normen hin.

derStandard.at: Sie haben die "Presse" mit der "Krone" verglichen und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass sie sich annähern. Woraus wird das ersichtlich?

Wodak: Das narrative Element hat in der "Presse" mehr Eingang gefunden. Die "Krone" hat immer schon mehr Geschichten erzählt. Da gab es schon lange ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Geschichte und Bericht.

derStandard.at: Der narrative Journalismus ist hilfreich, um Sachverhalte leichter transportieren zu können.

Wodak: Natürlich, das ist adressatenorientierter und wirkt auch ein bisschen bunter. Man kann direkte Rede einflechten. Die Texte sind sicher lesergerechter als ein eher trockener, unpersönlicher, im Passiv geschriebener Bericht.

derStandard.at: Würden Sie manchen Journalisten einen Deutschkurs empfehlen?

Wodak: Ich würde eher empfehlen, mehr darauf zu achten, welches Hintergrundwissen Leserinnen und Leser haben. Journalisten sollten sich die Frage stellen, was man dem Leser oder der Leserin erklären muss. Wie macht man komplexe Sachverhalte möglichst verständlich? Zum Beispiel bei Nachrichten über die Finanzkrise. Die Vermittlung ist oft tatsächlich schwierig.

derStandard.at: Würden Sie Schülern raten, wieder mehr zu lesen, um zum Beispiel Phraseologismen oder Redewendungen besser zu beherrschen?

Wodak: Ja, es wäre wichtig, die Freude am Lesen zu unterstützen. Wobei Lesen im Internet auch als Lesen zu werten ist. Die Beschäftigung mit Literatur sollte einen wichtigen Platz im Leben einnehmen. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 24.4.2012)