Simon McBurney macht aus "Meister und Margarita" einen schwebenden Theaterabend: ab Juni bei den Festwochen.

Foto: Wiener Festwochen / Eva Vermandel

London - Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita" beleuchtet die Konsequenzen, die es hat, die Existenz Jesu Christi zu leugnen. Der Teufel sucht das stalinistische Moskau heim: In Simon McBurneys atemberaubender Bühnenadaption dieses Schlüsselwerks der Moderne prallen kommunistische Funktionäre auf schwarze Magie. McBurney, nicht nur in Großbritannien ein Star und heuer bereits zum zweiten Mal nach 2007 Festwochen-Gast, denkt in einem Café im Londoner Bezirk Kentish Town über die Moral der Moderne nach.

STANDARD: Warum haben Sie sich als Theaterregisseur ausgerechnet für "Meister und Margarita" interessiert?

McBurney: So viele verschiedene Anlässe führten mich zu dem Bulgakow-Roman von 1940; ob ich ihn nun zum zweiten Mal las, ob es an der Tatsache lag, dass mein Bruder in Moskau studierte und ich ihn in den 1980ern in der Sowjetunion besuchte - jedenfalls hat mich die dortige Kultur auf Anhieb verstört und fasziniert. Wenn wir über den Anfang eines solchen Projekts sprechen, so ist darin immer ein Moment der Wahlfreiheit enthalten. Wenn du aber auf diese Sekunde der Entscheidung genauer hinblickst, so erkennst du sofort: Du hast gar niemals eine Wahl besessen! Ich hatte oder habe ganz einfach das Gefühl, dass Michail Bulgakows Geschichte für uns heute von eminenter Bedeutung ist. Das ist es, was zählt.

STANDARD: Was bedeutet das für die Aufgabe, einen Roman in die Theaterform zu übersetzen?

McBurney: Theater ist die Kunstform der Gegenwärtigkeit: Sie findet im Hier und Jetzt statt, sie verhandelt etwas Gegenwärtiges und richtet sich an Anwesende. Bulgakows Stoff besitzt eine absolute Dringlichkeit. Wir haben zu enthüllen, worin diese Dringlichkeit besteht.

STANDARD: Ihre Inszenierung hält sich weniger mit dem Albdruck des Stalinismus auf, sondern gipfelt in einer Apotheose des Mitgefühls: Pontius Pilatus und Jesus Christus reichen einander die Hand. Bestand darin die Botschaft?

McBurney: Ersetzen Sie das Wort "Glaube" durch den Begriff "Bewusstsein" . Ersetzen Sie das Wort "Mitleid", das in dem Stück vorkommt, durch "Mitgefühl" und "Verzeihen", dann liegen Sie ebenfalls richtig. Wie und durch welche Umstände bedingt, treffen wir die Unterscheidung in Gut und Böse?

STANDARD: Sie meinen: moralphilosophisch gesprochen?

McBurney: Ich stelle die Frage politisch. Was wir glauben, wird durch soziale und politische Umstände bedingt. Nehmen wir die Situation um 1930 her. Die Gründung der jungen Sowjetunion, die mit so großen Hoffnungen begonnen hatte, war ein Notwehrakt gegen unvorstellbares Elend. Nur ein Prozent der russischen Bevölkerung besaß Zugang zur Bildung, die Unterschiede in der materiellen Versorgung waren verheerend.

Die Verhältnisse änderten sich innerhalb von 15 Jahren von Grund auf: 40 Prozent kamen in den Genuss von Bildung. Ich sage das, weil historisch oft so getan wird, als wäre das Sowjetregime von allem Anfang an eine Tyrannei gewesen. Der mächtige Strom von Bulgakows Literatur entsprang einer Periode großer Hoffnungen. Es gab eine regelrechte Explosion der Kreativität.

STANDARD: Die Künstler propagierten den Wandel?

McBurney: Die Liste ist lang und umfasst auch Musiker, Architekten und Maler. Natürlich kippte das Licht der Hoffnung in eine völlige Dunkelheit hinüber. Aber Bulgakow erzählt in "Meister und Margarita" nicht bloß die Geschichte des Terrors. Er fragt vielmehr: Sollen wir glauben, was uns erzählt wird? Oder ist der Glaube nicht eine viel kompliziertere Angelegenheit? Wenn Fiktionen sich des Glaubens bemächtigen, muss man die Aufmerksamkeit für den Wirklichkeitssinn neu schärfen.

Bulgakow richtet sich gegen jede ideologische Verfestigung. Er fragt nicht danach, wie sich die materielle Beschaffenheit der Welt entwickelt hat, sondern wie wir uns innerlich verändern. Glauben wir, dass andere Menschen genauso behandelt werden müssen, wie wir behandelt zu werden wünschen? Fühlen wir uns untrennbar mit unserer Vergangenheit verbunden? Sind wir Gemeinschaftswesen oder Egoisten? Das sind nicht bloß philosophische, sondern oft genug amüsante, komödiantische Fragen.

STANDARD: Inwiefern theatralisch?

McBurney: Die Frage, ob der Teufel existiert, entscheidet eben darüber, ob jemand buchstäblich den Kopf verliert oder nicht. Aber kommen wir zum Mitgefühl zurück: Mitgefühl ist ein politisches Thema. Hier in Großbritannien werden die Menschen von der Regierung dazu angestachelt, Sozialhilfeempfänger als Schnorrer zu bezeichnen, die von anderer Leute Arbeit leben. Die konservative Regierung David Camerons bestärkt die Menschen darin, die Empfänger von Transferleistungen als Parasiten anzusehen. Das zieht die Aufmerksamkeit von den Allerreichsten ab, die die wahren Parasiten der Gesellschaft sind: Sie zahlen, proportional gesehen, weniger Steuer als die Armen oder die Mittelklasse.

Für die Veruntreuung von Milliarden ernten die Spekulanten ein Schulterklopfen, während man die Teilnehmer an den Londoner Riots in den Knast sperrt. Meine Theaterproduktion handelt nicht von irgendeiner Diktatur in ferner Vergangenheit, die uns nichts angeht, sondern ich wollte die vierte Wand niederlegen. Mitgefühl und Empathie sind Werte, die uns alle etwas angehen. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 27.4.2012)