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Claudia Sabitzer und Patrick O. Beck in der Inszenierung von Maxim Gorkis Drama "Kinder der Sonne". Eier sind nicht das einzige fragile Gut in Zeiten der Veränderung.

Foto: Reuters/Prammer

Wien - Maxim Gorki saß in Sankt Petersburger Festungshaft, als er 1905 an seinem Drama Kinder der Sonne schrieb. Die Kosaken des Zaren hatten soeben das ein wenig Mitbestimmung fordernde Volk in den Staub getreten. Der Russe Gorki (1868-1936) war ein sozial empfindender Beobachter, kein Revolutionär. In Kinder der Sonne blickt er mit leiser Sympathie auf eine Gruppe kultivierter Bürger. Die hören zwar, wie das schwer arbeitende Volk stöhnt. Wie Schlosser ihre Frauen halb tot prügeln: nicht, weil sie schlecht wären, sondern weil sie sich von der Welt, in der sie geschunden und geplagt werden, keinen Begriff zu machen verstehen.

Vor allem aber verkennen die Bürger - die auf die Bühne, aber auch diejenigen im Parkett - ihre Lage: Sie lesen keine Zeichen, missachten die Menetekel an der Wand.

Im Wiener Volkstheater nimmt Regisseur Nurkan Erpulat das Geschäft der Deutung selbstbewusst in die postmigrantische Hand. Auf der leicht nach vorne kippenden Bühne (Magda Willi) liegt eine dünne Schicht Erde; die gute Kinderfrau Antonowna (Inge Maux) ergreift den Besen und kehrt eine rechteckige Spielfläche frei.

Alles, was den Haushalt des sendungsbewussten Biochemikers Protassow (Patrick O. Beck) im Innersten zusammenhält, muss den Verhältnissen erst abgerungen werden. Der eigentliche Hauptdarsteller dieser grillenhaften Inszenierung ist das Volk: Bühnenarbeiter in grauer Montur halten wie stumme Diener die Seilzüge der Luster in Händen.

Zwei besonders ausdauernde Vertreter der werktätigen Klasse balancieren die Platte des Familienesstisches an gusseisernen Griffen. An den wodkaseligen Erörterungen der Protassows nehmen sie Anteil, als sie nach Verstreichen einer halben Stunde ihre Last entschlossen niederlegen. Zeit für ein Gabelfrühstück, für ein Zigarettchen, für einen Apfel vom Tisch der Besitzenden.

In der Tat: Wer in den Genuss dieser Aufführung kommt und guten Willens ist, der hat den Unterschied zwischen Basis und Überbau endgültig begriffen. Nur leider hat Erpulat, der Shootingstar aus dem Berliner Ballhaus Naunynstraße, auf die Entfaltung der verwickelten bürgerlichen Verhältnisse nicht ganz die nämliche Sorgfalt verwendet.

Hausherr Pawel (Beck) verschwendet seinen Zartsinn an Topfpflanzen. An seiner Seite verkümmert die hysterische Schwester Lisa (Nanette Waidmann), eine Art Kassandra der Untermietshöfe. Noch weniger Zuwendung erfährt die ihm angetraute Jelena (Heike Kretschmer), die sich lebenslustig streckt wie nach dem Genuss von zu viel Fusel.

Auf der Strecke bleibt die verwinkelte Architektur einer zum Tode verurteilten Gesellschaft. Der zynische Veterinär Tschepurnoj (Simon Mantei), der Lisa liebt und sie zugleich mit seinem zynischen Gerede von sich stößt, wirkt wie ein freundlicher Student. Die Herrschaften schwätzen engbedrucktes Papier: über die Schönheit der Menschenseele, über das traurige Los der Armen, über die soziale Verbindlichkeit der Kunst.

Wunderbare Schauspieler wie Claudia Sabitzer und Günter Franzmeier setzen den fruchtlosen Debatten ein paar Irrlichter auf. Aber mit einem Male wirkt Gorkis Röntgenbefund grauenhaft verquasselt. Der Tierarzt erhängt sich. Das Volk tritt im Drillich auf den Plan, die Protassows bauen aus dem Hausrat eine Barrikade.

Nur warum "die Menschen strahlen" müssen "wie die Sonne", darüber hätte man, nicht nur mit Blick auf die Revolution von 1917, doch gerne mehr gewusst. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 30.4.2012)