Eine confessio gleich zu Beginn: Ich lese Derrida auf Deutsch, das ist mir schwer genug. Auf Französisch gehen nur Fachtexte meiner profession. Mit diesen beiden Begriffen, beide Komposita zum lateinischen Verbum fateri (gestehen, bekennen), spielt Derrida über weite Strecken seines Textes hinweg. Wohl auch deshalb, weil sie, im Sinne der Theorie John Austins, eine schillernde Fülle performativer Sprechakte bezeichnen, in denen das Sprechen gleichzeitig auch ein Tun ist; indem ich mich bekenne, indem ich öffentlich spreche, verpflichte ich mich zu etwas, übernehme ich Verantwortung. Und man ist während der Lektüre natürlich auf Derridas profession de foi, sein Glaubensbekenntnis gespannt und hofft eine ziemliche Zeit lang, wenigstens einen Zipfel seiner confessio zu erhaschen, wenn auch verunsichert durch die immer wieder ausgestoßene Drohung ihrer Dekonstruktion und den hoch aufgerichteten scheinbaren Schutzwall eines performativen "als ob".

Da beginnen allerdings bereits die Übersetzungsprobleme. Derridas Zentralbegriff der humanités, der auf ein Wissen über alle Facetten der "Idee des Menschen" abzielt, wird in der Übersetzung leider mit dem angloamerikanischen "humanities" wiedergegeben, ein Begriff, der seine Entsprechung im Deutschen am ehesten in den "Geisteswissenschaften" findet, aber etwas anderes meint. Zusätzlich ändert das "als ob" für "comme si" den Charakter seiner Argumentation, verlagert es doch alles darauffolgende Sprechen eher ins Reich der Fiktion, wohingegen das "comme si", dem ein "wie wenn" vielleicht näher stünde, einen vergleichenden Bedingungssatz einleitet, der zumindest Wirklichkeit atmet.

Allerdings: Einer université sans condition - einer "Universität ohne Bedingung" - mit Bedingungssätzen sich nähern zu wollen ist von vornherein aussichtslos. Dieses Scheitern war natürlich Ziel des Unterfangens, aber Derrida scheitert mit Brillanz und einer Fülle anregender Denkanstöße. Die wichtigsten für mich:

  • Die von Derrida skizzierten humanités bilden den Kern und die Krone einer Universität, die sich das "Recht" herausnehmen muss, "alles zu sagen". (Wir scheinen uns von diesem Ideal der parrhesía, einer wirklich freien Rede, derzeit eher zu entfernen.)
  • Die mit ihnen versehene Universität ist ein Ort "unbedingten Widerstands". (Leider und klarerweise ist Derrida außerstande, explizit zu sagen, wogegen.)
  • Humanités müssen alle Wissenschaften mit historischer Tiefe, theoretischer Reflexion und politischer Relevanz durchdringen.
  • Sympathisch ist für mich zudem seine Kritik an der unbedingten Feier von Interdisziplinarität und cultural studies.

Dies ist nur eine, hier in fast unzulässiger Kürze präsentierte, mögliche Lektüre des Textes. Das Reizvolle an meiner Rezeption liegt in ihren konstruktiven Ansätzen zu Universität und Geisteswissenschaften, auch wenn man den Text damit gegen den Strich liest - oder doch nicht? (Karlheinz Töchterle, UniStandard, DER STANDARD, 3.5.2012)