"Die meisten Lehrer sind dann hoffnungslos überfordert. Kaum wird ein Kind verhaltensauffällig, wissen viele Lehrer nicht, wie sie damit umgehen sollen."

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Bildungsministerin Claudia Schmied (SPÖ) will - so wie Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz (ÖVP) - die Strafen für Schulschwänzen erhöhen. Für den Lehrer und Autor Niki Glattauer ist das ein "Schattengefecht", Schulschwänzen sei nicht das eigentliche Problem. Im Gespräch mit derStandard.at fordert er eine Durchmischung der sozialen Milieus. Vor allem die "Restschüler" in Hauptschulen und Neuen Mittelschulen hätten keine Lobby.

derStandard.at: Ministerin Claudia Schmied hat letzte Wochen angekündigt, die Strafen für Schulschwänzen zu erhöhen. Was halten Sie von so einer Maßnahme?

Glattauer: Ich halte nicht viel davon. Es beruhigt offensichtlich die Gemüter, jetzt Sanktionen präsentieren zu können. Das wird in der Praxis sehr selten zur Anwendung kommen, weil davor viele Maßnahmen greifen müssen. Über diese Maßnahmen zu reden wäre wichtig.

Man muss einmal draufkommen, welche Kinder nicht mehr in die Schule kommen. Niemand schwänzt die Schule einfach so, da gibt es eine Vorgeschichte. Im Großen und Ganzen muss man aber ohne Strafen auskommen.

derStandard.at: Diskutiert man hier die eigentlichen Probleme nicht?

Glattauer: Ich bin erschüttert darüber, dass jetzt diskutiert wird, ob 400 Euro oder 1.500 Euro angebracht sind. Das sind Schattengefechte. Es wird sehr selten zur Verhängung dieser Strafen kommen. Wir müssen uns mit dem Davor beschäftigen.

derStandard.at: Was fehlt, um das Davor zu verbessern?

Glattauer: Ich unterrichte in diesem Milieu, um das es angeblich geht. Ich bin in einer Restschule, mit fast 100 Prozent aus dem sozial schwachen Milieu, in meinem Fall fast deckungsgleich mit Schülern mit nichtdeutscher Muttersprache. Ich habe genau diese Klientel. Das Problem Schulschwänzen wird total überbewertet. Das ist ein Stellvertreterkrieg. Die Schulschwänzer sind fürwahr nicht unser Problem.

derStandard.at: Was ist es dann?

Glattauer: Unser Problem sind Kinder, die schon aus den Volksschulen und Kindergärten kommen und nicht ausreichend alphabetisiert sind. Das Problem ist auch, dass der Spargedanke verhindert, dass ein ordentliches pädagogisches Konzept zur Anwendung kommt. Das sind die Probleme, die wir wirklich haben. Wir haben auch das Problem der Halbtagsschule. Wir verlieren unsere Kinder ab Mittag. Diese Kinder sind in einem Milieu zu Hause, wo niemand darauf schaut, dass sie am Nachmittag etwas tun. Das ist wirklich ein Problem für die Ausbildung, und nicht die paar Schulschwänzer.

derStandard.at: Man spricht über einzelne Maßnahmen, vergisst aber dabei die Struktur?

Glattauer: Ja. Es gehört die ganz große entscheidende Schulreform, auf die wir seit Jahrzehnten warten, aber nichts passiert. Dieses Schuljahr war für die Bildungssituation in diesem Land ein Katastrophenjahr. Wir haben trotz eines Bildungsvolksbegehrens und einer reformwilligen Ministerin einen Stillstand.

Wir haben Baustellen an allen Ecken und Enden, beim Lehrerdienstrecht oder beim Umstieg zur Neuen Mittelschule. Das, was an Reform notwendig wäre, passiert nicht. Und dann diskutiert man über 440 Euro. Das Pferd wird hier wirklich von hinten aufgezäumt.

derStandard.at: Mangelt es in Österreichs Schulen an ordentlicher Sozialarbeit?

Glattauer: Woran es mangelt, ist, dass wir als Gesamtes eine Bildungsgesellschaft sind und nicht nur für einen kleinen Teil. Was wir in Österreich haben, ist eine Klientel-Schulpolitik. Wir haben gute Gymnasien und wir haben Eltern, die wollen, dass es so bleibt. Für die 30 Prozent, die zu Restschülern werden, vor allem in den Ballungsräumen, spricht niemand.

derStandard.at: Welche Folgen hat das?

Glattauer: Wir unterrichten Schichten. Die Lehrer wissen voneinander nichts, die Kinder lernen sich nicht kennen. Das Isolieren der sogenannten Guten und der sogenannten Schlechten ist ein Palawatsch. In den Hauptschulen leiden wir darunter, dass wir nur mehr zu einer Restschule werden. Die Schüler schmoren im eigenen Saft. Die Kinder, die wir unterrichten, werden in einem Milieu groß, das verhindert, dass sie zu einem anderen Milieu Kontakt aufnehmen.

Da bleibt man ewig unter sich. Die Kinder gehen mit 15 raus aus der Schule und haben wieder nur sich selbst kennengelernt und leben dann mit den Defiziten, die sie alle haben. Das sind vor allem sprachliche Defizite, das sind aber auch kulturelle Defizite. Es müsste mehr versucht werden, die Schichten miteinander zu verbinden.

derStandard.at: Das wirkt sich ja auch auf die Lehrer aus. Braucht es eine gleiche Ausbildung?

Glattauer: Ja, natürlich brauchen sie eine akademische Ausbildung. Sie brauchen alle die gleiche Grundausbildung, aber auch eine sonderpädagogische Ausbildung. Wir haben heute sogenannte Sonderschullehrer. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Lehrer. Die Kinder, die sonderpädagogisch behandelt gehören, sitzen mittlerweile in allen Klassen, in fast allen Schulen dieses Landes, weil sich gesellschaftlich etwas verändert hat. Die meisten Lehrer sind dann hoffnungslos überfordert. Kaum wird ein Kind verhaltensauffällig, wissen viele Lehrer nicht, wie sie damit umgehen sollen.

derStandard.at: Fehlen den Lehrern die Mittel, um Disziplin umzusetzen?

Glattauer: Die Kinder, die sich zufriedengeben, wenn der Lehrer einmal ernst schaut, gibt es nicht mehr. Die heutigen Kinder sind nicht mehr so autoritätshörig wie früher. Wir haben aber noch immer dieselbe Hardware, dieselben Klassen und denselben Unterrichtsstoff. Manchen Lehrern gelingt es nicht, die Methoden ans Heute anzupassen, sie wollen die Kinder mit Methoden von vorgestern "zähmen". Das geht nicht mehr.

derStandard.at: Welche Veränderungen braucht es hier?

Glattauer: Es müsste sich an der Hardware etwas ändern, damit Lehrer gar nicht mehr in die Situation kommen, sich über mangelnde Sanktionsmöglichkeiten zu beklagen. Die Sanktion, wie das Fehlverhalten, sollte die Ausnahme werden. Wenn sich Lehrer und Schüler mehr als Partner verstehen und sich nicht ununterbrochen das Leben schwer machen, dann würde sich in einer entspannten Situation auch ein ganz anderes Arbeitsklima ergeben.

Die Eltern haben eine Situation, in der sie sehen, dass die Kinder bei Lesetests oder PISA-Tests nicht den Erwartungen entsprechen. Gleichzeitig werden sie zu Mittag nach Hause geschickt. In den Ferien wissen sie oft nicht, wie sie es anstellen sollen. Für die Eltern ist die Unzufriedenheit eine sehr große. Aus diesem Grund bin ich auch für eine Neuorganisierung des Schuljahrs. Es ist die Frage, ob es sinnvoll ist, die Schulen zwei Monate einzumotten.

derStandard.at: Also kürzere Ferien?

Glattauer: Ich finde, eine Stammferienzeit von fünf Wochen im Sommer reicht - bei Beibehaltung der Betreuung. Diese muss nicht unbedingt durch Lehrer erfolgen, das könnten Studenten sein oder Freizeitpädagogen. Man sollte die Eltern endlich von der Last befreien, dass sie im Sommer nicht wissen, was sie mit den Kindern machen. Dafür sollten Lehrer unterm Jahr die Möglichkeit haben, diese fehlenden freien Tage zu konsumieren. (seb, derStandard.at, 19.6.2012)