Hannes Androsch und Michael Hartmann im Gespräch über Eliten und deren Bildung.

Foto: derstandard.at/Pumberger

"Wie immer man es definiert, kann Elite auch sehr rasch abdriften in oligarchische Strukturen zur Machterhaltung. Das hat nicht notwendigerweise etwas mit Verantwortung aufgrund höherer Qualifikation zu tun."

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"Sie verfügen über Macht. Das ist die zentrale Eigenschaft", sagt Hartmann über die Eliten.

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"Spitze wird im Kern über Leistung definiert, Elite über Macht", sagt Hartmann.

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"Spitze wird im Kern über Leistung definiert, Elite über Macht", sagt der Soziologe Michael Hartmann. "Verantwortung" verbindet Hannes Androsch mit dem Begriff Elite. Personen, die sich zur Elite zählen, können aber auch sehr rasch "abdriften in oligarchische Strukturen zur Machterhaltung", so der Industrielle. Ein derStandard.at-Gespräch über Elite, Macht und Oligarchien, und warum Bildungspolitik im Wahlkampf immer eines der wichtigsten Themen ist.

derStandard.at: Wozu brauchen wir Eliten?

Hartmann: Ob wir grundsätzlich Eliten brauchen, ist die Frage. Wir haben Eliten, und wir werden sie auf absehbare Zeit auch haben. Eliten sind per Definition Personen, die durch ihre Entscheidungen gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich beeinflussen können, vor allem Wirtschaftsvertreter oder Politiker wie Androsch. Ob man sie historisch wirklich immer braucht, weiß ich nicht. 

derStandard.at: Was zeichnet sie aus?

Hartmann: Sie verfügen über Macht. Das ist die zentrale Eigenschaft. 

derStandard.at: Der Begriff ist im deutschsprachigen Raum negativ besetzt. Warum?

Hartmann: Das hat mit zwei Weltkriegen zu tun, in denen die Eliten eine unrühmliche Rolle gespielt haben. Sie haben die Weimarer Republik mehrheitlich abgelehnt, sie haben den Nazis zur Macht verholfen.

Androsch: Zuerst haben sie den Ersten Weltkrieg verursacht.

Hartmann: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Phase, in der man das Thema verschwiegen hat. Das ist erst ab 1990 wieder anders geworden. Da hat man es in den bürgerlichen Kreisen wieder positiv thematisiert. Deutschland war wieder ein Mitspieler auf der großen internationalen Bühne. Alle anderen Mitspieler - Frankreich oder die USA zum Beispiel - haben Elite positiv begriffen. Das wollte man auch.

derStandard.at: Herr Androsch, sind Sie Elite dieses Landes?

Androsch: Ich sehe aufgrund meiner vielfältigen Tätigkeiten in der Politik, in der Wirtschaft und für die Wissenschaft sowie in meinem Selbstverständnis als Citoyen zumindest keinen Ausschließungsgrund. 

derStandard.at: Was verbinden Sie mit dem Begriff?

Androsch: Verantwortung. 

derStandard.at: Also ist er für Sie positiv besetzt?

Androsch: Nicht automatisch. Ich bin bei Hartmann: Wie immer man es definiert, kann Elite auch sehr rasch abdriften in oligarchische Strukturen zur Machterhaltung. Das hat nicht notwendigerweise etwas mit Verantwortung aufgrund höherer Qualifikation zu tun. Aber ohne Eliten geht es wohl auch nicht. Macht ist wichtig, solange sie legitimiert, begrenzt und kontrolliert ist. Oligarchien neigen dazu, zu erstarren, Macht zu missbrauchen.

Hartmann: Macht muss demokratisch legitimiert und kontrolliert werden. Das ist richtig. Man muss aber dennoch unterscheiden zwischen Elite und Spitze. Es wird immer Spitzenpositionen geben. Elite aber steht historisch in einer begrifflichen Kontinuität, die immer mit dem Gegenbegriff Masse verbunden ist. Ich kann über Spitzenwissenschaftler reden, das ist etwas anderes als Elite.

derStandard.at: Wo liegt der Unterschied?

Hartmann: Spitze wird im Kern über Leistung definiert, Elite über Macht. Spitzenwissenschaftler müssen keine Machtpositionen haben. Sie müssen nur herausragende wissenschaftliche Erkenntnisse erbringen.

Androsch: Es geht um die Zirkulation und die Durchlässigkeit. Sonst kommt es zur Erstarrung. Die Europameisterschaft ist nicht mit der Unterliga in Österreich durchzuführen. Das ist Fußballelite. Aber sie unterliegt einem Wechsel. Wer nicht gut spielt, ist nicht im Semifinale. 

Hartmann: Die Fußballer, die jetzt auf höchstem Niveau spielen, das ist die Spitze des Fußballs, sie erbringen eine Spitzenleistung. Elite im Fußball wäre aber eher Herr Blatter, der Chef der FIFA. Er hat die Macht, zum Beispiel über die Austragungsorte für die WM.

Androsch: Das ist in diesem Fall eine Fehlentwicklung.

Hartmann: Elite hat immer etwas mit Macht zu tun. Das ist der zentrale Begriff und nicht Leistung.

derStandard.at: Als Initiator des Bildungsvolksbegehrens treten Sie für Chancengleichheit ein. Gehört es da dazu, Elitenbildung zu betreiben?

Androsch: Wohl auch. Aber nicht im Sinne von verkrusteten Oligarchenstrukturen. Elite, verstanden als Qualifikation und Leistung, ist etwas anderes als eine Elite zur Ausbeutung anderer. Elite setzt Bildung voraus, aber auch soziale Kompetenz. Ein zeitgemäßes Eliteverständnis erfordert Durchlässigkeit, Kontrolle, aber auch Wechsel. Die Frage ist, wie eng man den Elitebegriff definiert. 

Hartmann: Bildung ist wichtig, damit wir in der Masse ein hohes Niveau haben, aber auch Spitzenleistungen. Wenn man über Elitenbildung redet, ist das etwas anderes. Die Bildungseinrichtungen, die weltweit als Elitenbildungsinstitutionen angesehen werden, reproduzieren Eliten.

Androsch: Deshalb ist im Sinne sozialer Gerechtigkeit Chancengleichheit so wichtig.

Hartmann: Die Reproduktion der Elite ist die Kernfunktion dieser Institutionen. Auch Harvard würde nicht funktionieren, wenn der Undergraduate-Bereich nicht Upper-Class-Kinder auf ihre zukünftige Rolle vorbereiten würde. Das garantiert die Spenden an die Universität. Historisch kann man bei diesen Universitäten die Funktion der Machtreproduktion und die Funktion in der Wissenschaft nicht trennen.

Androsch: Es sei denn, es gibt eine Durchlässigkeit, die eine soziale Durchmischung gewährleistet. Die schlechteste Schule in Schweden war Malmö 9. Dann haben sich die besten Lehrer zusammengetan und gesagt: Das wollen wir ändern. Herausgekommen ist, dass sie aus dem Schülerangebot eine Spitzenschule gemacht haben. Kurzgefasst lassen sich die Ziele des Volksbegehrens so zusammenfassen: Hebung des Bildungsniveaus, Begabungen und Talente bestmöglich zu fördern, aber auch niemand zurückzulassen.

derStandard.at: Wo wird das am besten gelöst?

Hartmann: Am ehesten in Skandinavien. Dort haben sie aber auch andere Betreuungsrelationen, mehr Lehrer, aber auch Sozialarbeiter und Psychologen. Das hat viel mit Geld zu tun. Wir haben auch in Deutschland eine Zunahme von Jugendlichen mit Hochschulzugangsberechtigung, das ist positiv. Wir haben aber gleichzeitig unten einen Sockel von circa 20 Prozent ohne Berufsabschluss. Der ist stabil, und dafür gibt es einen wesentlichen Grund: Wir haben ein Schulsystem, das sehr früh trennt. Da steht dann am Schluss ein Fünftel einer Generation als verloren da. 

Androsch: Das können wir uns nicht leisten. 

derStandard.at: Warum wehren sich viele gegen Chancengleichheit?

Hartmann: Man kann das vielleicht am Hamburger Schulkonflikt erläutern. Der gemeinsame Schulbesuch sollte dort von vier auf sechs Jahre verlängert werden. Dann hat es eine Initiative gegeben, angestoßen vor allem von Anwälten, die Unterschriften gesammelt haben, um das zu verhindern. Sie waren erfolgreich. Sie haben nicht die Mehrheit der Wähler bekommen, sie haben aber die Mehrheit derjenigen bekommen, die abgestimmt haben. Das Motiv war, dass sie nicht wollten, dass ihre Kinder aus gehobenem Milieu länger als die vier Grundschuljahre mit anderen Kindern zusammen lernen. 

derStandard.at: Das duale System fördert also die Elitenbildung?

Hartmann: Das Wichtigste passiert eigentlich schon vor der Schule. Kindern, die in familiären Verhältnissen aufwachsen, in denen sie sprachlich oder intellektuell viele Dinge nicht mitbekommen, kann man am besten helfen, wenn man früh ansetzt. Die Kinder, die es am wichtigsten brauchen, zum Beispiel Kinder mit Migrationshintergrund, sind nur zu 14 Prozent in den Kindertagesstätten, das heißt seltener als die aus gut situierten deutschen Familien. Das müsste man umdrehen. Kinder, die familiär etwas nicht mitkriegen, haben nur eine Chance, dass die öffentliche Infrastruktur etwas zur Verfügung stellt, was ihre Eltern nicht können. Je früher und je umfangreicher, desto besser.

derStandard.at: Ist es das, was Sie mit dem Volksbegehren erreichen wollten?

Androsch: Mit dem Volksbegehren wollten wir nichts Neues erfinden, sondern die überfälligen Reformen für ein zeitgemäßes Bildungssystem im gesamten Bildungsbogen einfordern. Das wird nur möglich sein, wenn machtpolitische Erstarrung und Verkrustungen durchbrochen werden. Bildung ist Zukunft, für jeden Einzelnen, für die Gesellschaft insgesamt. Das wollten wir verdeutlichen.

derStandard.at: Aber ist Ihnen das gelungen?

Androsch: Wir haben das Thema Bildung von der Peripherie in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit bringen können.

derStandard.at: Sie haben angekündigt, das Bildungsthema weiterhin in der Öffentlichkeit halten zu wollen.

Androsch: Wir werden nicht ruhen, bis die Forderungen auch in die Tat umgesetzt werden. Die Abgeordneten aller parlamentarischen Fraktionen hatten sich im eigens eingerichteten Sonderausschuss für das Bildungsvolksbegehren bereits auf viele wichtige bildungspolitische Maßnahmen geeinigt. Zur Umsetzung durften sie diese aber nicht bringen, und zwar aus Rücksichtnahme auf bestehende Machtstrukturen, wofür die Adressen St. Pölten und Teinfaltstraße stehen. An dieser Blockademauer scheitern bisher selbst im Koalitionsabkommen festgelegte Vereinbarungen, darunter auch solche zur Modernisierung unseres Bildungswesens. Damit verbauen wir uns die Zukunft. 

derStandard.at: Das sind aber auch die Eliten im politischen Bereich, die eine Veränderung verhindern.

Androsch: In meinen Augen sind das keine wirklichen Eliten. Machteliten, ja. Aber im negativen Sinn. Sie sind rückwärtsgewandt, von Machtprivilegien besessene Teile einer oligarchischen Struktur. Das ist das Hindernis, das wir überwinden müssen. Das Ende der Fahnenstange ist beim Bildungsvolksbegehren noch nicht erreicht. Wir werden das Bildungsthema in den Herbst und in den kommenden Nationalratswahlkampf hineintragen. 

derStandard.at: Lässt sich mit Bildung Wahlkampf machen?

Hartmann: Wir haben in Deutschland andere Strukturen, in den Landtagswahlkämpfen ist es immer einer der wichtigsten Punkte. Da bestehen für einen erheblichen Teil der Bevölkerung Gestaltungsmöglichkeiten. Die Politiker können an ihre Alltagserfahrungen anknüpfen. Euro, das ist alles weit weg. Aber bei der Bildung weiß jeder, worum es geht. 

derStandard.at: Warum hängt so viel an dem Thema?

Hartmann: Bildung ist deswegen so zentral, weil sie für die Durchlässigkeit der Gesellschaft ein, wenn nicht der entscheidende Schlüssel ist. Ohne ein bestimmtes Maß an Bildung kann man immer legitimieren, warum ein Teil der Gesellschaft für gewisse Positionen nichts taugt. Das Argument kommt zum Beispiel gegenüber Migranten, die bestimmte Bildungsabschlüsse nicht haben. 

Androsch: Bei den jüngeren Migranten besteht oft das Problem, dass sie weder ihre Muttersprache noch die neue Landessprache beherrschen. Sie fallen in jeder Hinsicht zwischen zwei Stühle. Das ist das eigentliche Dilemma. Es geht nicht um die erste Generation, sondern um die dritte Generation. Diese ist oft entwurzelt. Das ist die große Herausforderung, für die Betroffenen und die Gesellschaft.

Hartmann: Sprache ist das eine Problem, das zweite ist, Perspektiven zu erkennen. Ich habe häufig mit Personalmanagern zu tun, die Lehrstellen für Problemjugendliche schaffen. Nach einigen Wochen sind sie ganz enttäuscht, dass diese nicht oder nur unregelmäßig kommen. Ich sage ihnen, man muss Geduld haben. Die Lebenserfahrung, die sie haben, so oft gescheitert zu sein, oft unabhängig von der erbrachten Leistung, das kriegt man nicht in ein paar Wochen aus dem Kopf. Da muss man mit einem langen Atmen heran gehen, weil man ihr Lebensprinzip verändern muss. Man muss ihnen klar machen, das was sie in der Gesellschaft an Leistung erbringen, Möglichkeiten eröffnen kann. Es ist keine Lotterie, in der du in der Regel doch verlierst. Das ist sehr schwer.

derStandard.at: Warum tut sich die Gesellschaft mit diesem Lernprozess so schwer?

Hartmann: Weil es für einen Teil der Bevölkerung und Gesellschaft etwas zu verlieren gibt. Sie haben einmal Angst, dass ihre Kinder dann nicht mehr so viel lernen. Diese Angst muss und kann man ihnen nehmen. Sie wollen zum Teil aber auch nicht, dass das, was für die eigenen Kinder selbstverständlich ist, nämlich Abitur und Studium, von vielen erreicht wird. Denn dann wäre die Konkurrenz für die eigenen Kinder zu groß.

Androsch: Ich unterschreibe alles, was Sie gesagt haben. Manche Eltern sind von Ängsten erfüllt, haben mangelndes Verständnis, verspüren unterbewusst vielleicht auch einen gewissen Neid. Es ist nicht immer so, dass die Eltern automatisch sagen, meine Kinder sollen es weiter bringen, als ich es gebracht habe.

Hartmann: Es gibt eine Umfrage: Die Hälfte der türkischen Immigranten wünscht sich, dass ihre Kinder das Abitur machen. Das ist weit von der jetzigen Realität entfernt. Aber es ist andererseits auch klar, dass die Kinder, wenn sie die höheren Bildungsabschlüsse haben, sich den Eltern ein Stück weit entfremden. Das war früher bei den Arbeitern genau dasselbe. Die haben davor immer auch Angst gehabt. Das muss man einkalkulieren. (Sebastian Pumberger/Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 9.7.2012)