Salzburg - Mit dem Anbruch jeder neuen Festspiel-Ära werden die Bleigewichte schwerer. Den Salzburger Intendanten hängt, kaum dass sie ihr segensreiches Wirken begonnen haben, die Tradition nach. Auf Episoden und Dekaden relativer Windstille folgen kleinere Stürme: Wasserblubbern in Gläsern. Dann wird zumeist Modernisierung angemahnt und von den Sachzuständigen eingeleitet.

Mit peinvoller Heuchelei übergeht man die augenfälligsten Widersprüche. Man sieht zu, wie Hugo von Hofmannsthals bußfertiger Jedermann seine Zerknirschungsadresse auf dem Domplatz an ein ebenso zahlungskräftiges wie religiös desinteressiertes Publikum richtet. Das Schauspiel in Salzburg, 1920 noch das Herzstück einer ungewöhnlichen Festivalgründung, wird zur Quersubventionierung des Opernbetriebes herangezogen. Ansonsten entspringt sein Programm den häufig vagen oder auch bloß schwammigen Vorlieben des jeweils amtierenden Bereichsleiters.

Sven-Eric Bechtolf ist für sein erstes Schauspielprogramm nicht zu schelten oder - schon gar nicht - besonders zu loben. An die Frage, welcher Schauspieler als neuer Jedermann die Knittelverse in die Weite des Domplatzes hinausschreien wird, knüpfen sich bloß die üblichen Umwegrentabilitäten. Der reiche Mann benötigt zum gedeihlichen Sterben eine Buhlschaft. An das Entrée der Frischgebackenen heftet man allerlei mediale Begehrlichkeiten. Die Farbe des Kleides gilt es zu bestimmen; der pralle Sitz des Dekolletés wird mit kritischer Sympathie fachkundig beäugt.

Doch Hofmannsthals Vorgaben aus den 1920er-Jahren machen tatsächlich aus jedem Österreicher einen Festspielspezialisten. Das Salzburger Festival sollte nach dem Willen des Rodauner Dichters den Traum von einer friedvollen Volksgemeinschaft verwirklichen. Barock und erz katholisch war das Erbe, das sich Hofmannsthal umso beliebiger zusammenreimte, als es zu ihm auf der politischen Ebene keine Entsprechung gab.

Nun ist die Theaterkunst wie keine andere dazu berufen, Modelle der Repräsentation durchzuspielen: die Masken zu wechseln, um durch die Unverbindlichkeit des Spiels an den Ernst der politischen Tatsachen zu rühren. Natürlich war Andrea Breths diesjährige Homburg-Inszenierung in diesem Lichte ein ernstzunehmender Versuch, an die Voraussetzungen zu erinnern, unter denen Gemeinschaft gestiftet wird. Breth zeigte den disziplinierenden Ungeist des modernen Krieges.

Das Schauspiel in Salzburg könnte aber noch mehr leisten. Es besäße zum Beispiel mit der Felsenreitschule eine Location, in deren hallender Weite sich die umwälzenden Prozesse darstellen ließen, die die Weltgesellschaft vor immer neue Zerreißproben stellen. Vielleicht müsste man dann eben eine Bohème weniger spielen. Es wäre der Mühe wert. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 29.8.2012)