Kinder, denen vorgelesen wird, haben später bessere Schulnoten - nicht nur in Deutsch und unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern.

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"Mit dem Vorlesen aufzuhören, wenn Kinder in die Schule kommen, ist das Falscheste, was Eltern tun können", sagt Simone C. Ehmig.

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Ob Kinder gerne lesen oder nicht, ist vor allem hausgemacht. Eltern und Erziehungsberechtigte spielen die entscheidende Vorbildrolle, indem sie ihren Kindern einen natürlichen Umgang mit Büchern, Lesemedien und Texten vermitteln. Simone C. Ehmig leitet das Institut für Lese- und Medienforschung der deutschen Stiftung Lesen. Im Interview mit derStandard.at erklärt sie, dass Leseförderung in der Schwangerschaft beginnen sollte, warum bildungsferne Kinder im Nachteil sind und wieso Eltern weder Ohrensessel noch dicke Wälzer brauchen, um Lesevorbilder zu sein.

derStandard.at: Welche Rolle spielen die Eltern bei der Entstehung kindlicher Leselust?

Ehmig: Eine ganz wichtige. Wir wissen aus Studien mit schwangeren Frauen, dass Kinder schon im Mutterleib den Duktus von Sprache kennenlernen und einen Zugang zu Sprache entwickeln. Es ist wichtig, dass Eltern mit ihren Kindern so früh wie möglich sprechen, ihnen vorlesen und Geschichten erzählen. Viele Eltern wissen gar nicht, wie viel man mit wenig Aufwand tun kann, um Kinder früh zu fördern.

Kleine Kinder imitieren ständig Dinge, die um sie herum passieren. Wenn sie ihre Eltern im Alltag als lesende Menschen wahrnehmen und sehen, wie sie in der Zeitung blättern oder ein Buch lesen, dann wird das für sie zu etwas Normalem. Die Eltern haben die entscheidende Vorbildrolle. Sie müssen zeigen, dass Lesen zum Leben dazugehört - ohne es auf einen elitären Sockel zu stellen.

derStandard.at: Vorbildrolle heißt also nicht, dass sich Eltern regelmäßig mit dem dicken Wälzer in den Ohrensessel zurückzuziehen?

Ehmig: Genau - und es geht nicht nur um Bücher. Für die Vorbildrolle muss es auch nicht die hohe Literatur sein. Sondern das, was die Eltern eben gerne lesen. Lesen ist ja nicht nur ein Kulturgut, sondern vor allem eine Fähigkeit, die wir im Alltag ständig brauchen. Als Vorbilder sollten Eltern aber sichtbar sein als Menschen, die auch einmal in Ruhe etwas anderes lesen als SMS.

derStandard.at: Was kann die Schule retten, wenn die Kinder von zu Hause keinen Zugang zum Lesen mitbekommen haben? 

Ehmig: Die Schule kommt eigentlich zu spät. Man muss viel früher beginnen. Freude am Lesen vermittelt man Kindern ab dem Zeitpunkt der Geburt. Je früher Kinder auf spielerische Art und Weise mit Sprache und Lesen in Berührung kommen, desto früher bauen sie eine Beziehung zum Lesen auf. Sie lernen ganz natürlich, dass es zum Leben dazugehört. 

Wenn die Kinder in die Schule kommen, kommt es bei vielen zu einem Leseknick. Die Lesefähigkeit stagniert dann erst einmal, das Interesse am Lesen nimmt oft sogar ab. Ein Grund ist, dass viele Eltern sagen: "Du lernst ja jetzt selber lesen, jetzt hör ich auf mit dem Vorlesen." Mit dem Vorlesen aufzuhören, wenn Kinder in die Schule kommen, ist das Falscheste, was Eltern tun können.

derStandard.at: Wie können Eltern abseits der Vorbildrolle die Leselust ihrer Kinder fördern? 

Ehmig: Über Freude und Spaß. Leistungs- oder Notendruck sind kontraproduktiv. Durch Spaß lassen sich selbst die negativen Vorstellungen vom Lesen zurechtrücken, die Kinder aus lesefernen Familien oft haben. 

derStandard.at: Warum ist es eigentlich so wichtig, dass man Kindern vorliest?

Ehmig: Kurzfristig fördert man bei kleinen Kindern Sprachbildung und Fantasie. Es gibt aber auch langfristige Effekte. Studien haben gezeigt, dass Jugendliche, denen als Kindern vorgelesen wurde, nicht nur häufiger, intensiver und lieber lesen. Sie haben im Schnitt auch bessere Schulnoten als Jugendliche, denen nicht vorgelesen wurde. Und zwar in allen Fächern, nicht nur in Deutsch.

Das zeigt sich ganz besonders bei Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern, wo die Eltern selbst keine höhere Bildung haben. Diese Kinder profitieren auf ganzer Linie, wenn ihnen früh vorgelesen wird. Die Vorteile des Vorlesens betreffen alle Kinder, unabhängig von der sozialen Schicht. 

derStandard.at: Welchen Einfluss hat die soziale Herkunft auf die Lesefreude von Kindern?

Ehmig: Den entscheidenden. Alle Studien zeigen: Je höher das Bildungsniveau der Eltern, desto stärker ist die Nähe der Kinder zum Lesen. Denn der soziale Hintergrund hängt sehr stark mit dem Bildungshintergrund zusammen. Kinder aus bildungsfernen Milieus finden viel schwerer Zugang zum Lesen und zu Büchern. Sie lesen oft nur dann, wenn sie unbedingt müssen.

Das liegt daran, dass das Lesen für viele bildungsferne Eltern eine untergeordnete Rolle spielt. Damit fehlen den Kindern Lese-Vorbilder. Selbst wenn sie in die Schule kommen und lesen lernen, werden diese Kinder zu Hause oft nicht auf dieselbe Weise unterstützt wie Kinder aus bildungsnahen Familien. 

derStandard.at: Wenn Kinder aus bildungsfernen Familien weniger Zugang zum Lesen haben, bleiben ihnen Fertigkeiten und Wissen versagt, die für sozialen Aufstieg bedeutend sein können. Wie lässt sich dieser Kreislauf unterbrechen?

Ehmig: Für bildungsferne Kinder ist das Lesen weit weg von ihrer Lebenswelt, sie haben oft sogar eine negative Vorstellung vom Lesen. Unsere Vorstellung davon, wozu eine Handlung längerfristig gut und ob sie für uns relevant ist, ist erfahrungsgeprägt. Kinder aus bildungsfernen Familien finden Lesen oft langweilig, anstrengend und unattraktiv. Interessanterweise nehmen sie es aber als relevant für andere wahr.

Diese Kinder sagen: "Lesen ist etwas für die, die später mal etwas werden, die später studieren und eine bessere Schulbildung kriegen. Das hat mit mir nichts zu tun, denn mein Leben wird so nicht verlaufen." Ein Kind, das insgeheim denkt, dass das Lesen etwas für die "besseren Kinder" ist, wird nie ernsthaft damit anfangen. 

derStandard.at: Gibt es in der Gruppe der Eltern, die selbst wenig Bildung haben, unterschiedliche Zugänge zum Lesen? Und wie wirken sich diese auf die Kinder aus?

Ehmig: Wir haben untersucht, ob Kinder aus bildungsfernen Familien alle gleich ungern lesen. Das ist nicht der Fall. Der entscheidende Unterschied ist, wie in bildungsfernen Familien die Kommunikation und der Umgang mit den Kindern aussehen. In den Familien, in denen die Kinder lieber lesen, sprechen die Eltern viel mehr mit den Kindern, etwa über das Fernsehen und über das, was sie lesen.

Diese Eltern haben trotz der eigenen Bildungsferne ein Bewusstsein dafür, dass Lesen wichtig ist für die Entwicklung ihrer Kinder. Und sie haben relativ klare Erziehungsziele. Innerhalb dieser lassen sie ihren Kindern aber Spielraum - auch zur Mediennutzung. Diese Eltern sagen: Wenn mein Kind Lust hat, dann soll es ruhig fernsehen. In dieser Umgebung ist das Lesen ein integrativer Bestandteil der familiären Medienwelt. Trotz der Bildungsferne.

derStandard.at: Was passiert im Gegensatz dazu in bildungsfernen Familien, in denen Kinder nicht gerne lesen?

Ehmig: Dort ist das Wertekonzept nicht so klar definiert, zugleich reglementieren die Eltern ihre Kinder stark in Kleinigkeiten. Ich vergleiche das gerne mit einem Garten: In bildungsfernen Familien, in denen die Kinder gerne lesen, ist dieser Garten klar umgrenzt, da gibt es einen Zaun. Innerhalb dieses Gartens dürfen sich die Kinder aber austoben. Bei den Familien, wo die Kinder nicht gerne lesen, hat der Gartenzaun viele Löcher. Innerhalb des Gartens dürfen sich die Kinder aber kaum frei bewegen. Diese Eltern reglementieren ihre Kinder sehr stark und stimmen zum Beispiel viel öfter dem Satz zu: "Ich achte darauf, wie mein Kind gekleidet ist."

derStandard.at: Was können Menschen mit wenig Geld tun, um ihren Kindern Freude am Lesen zu vermitteln?

Ehmig: Der Schlüssel ist die Vorbildrolle. Den Lesestoff gibt es in den Bibliotheken, den muss man nicht kaufen. Es reicht aber nicht, die Medien den Kindern einfach vorzulegen. Die Eltern müssen ihn kommunikativ mit den Kindern erschließen. Man sollte mit seinen Kindern darüber sprechen, was sie machen und lesen.

Es spielt eine elementare Rolle, die Themen aufzugreifen, die von den Kindern kommen. Das Bildungsargument alleine bringt wenig. Es reicht nicht, den Kindern zu sagen: "Du musst viel lesen, damit du dann gute Bildungschancen hast." Die Kinder brauchen Vorbilder. Umso mehr, weil in sozial schwachen Haushalten die Bildungschancen von vornherein eingeschränkt sind. Das spüren diese Kinder.

derStandard.at: Vor welchen Herausforderungen stehen Kinder mit Migrationshintergrund, wenn es ums Lesen geht?

Ehmig: Neben sprachlichen Schwierigkeiten und fehlender Förderung in der Schule haben diese Kinder oft damit zu kämpfen, dass in manchen Herkunftsländern Lesen und Vorlesen eine untergeordnete Rolle spielen. Wir haben in einer Studie Eltern mit Migrationshintergrund aus verschiedenen Ländern gefragt, ob sie ihren Kindern vorlesen. Da hat sich gezeigt, dass unabhängig von der Bildung der Eltern die Herkunftsländer einen Einfluss haben.

Eltern aus dem russischen und osteuropäischen Raum lesen ihren Kindern sehr viel vor und erzählen ihnen regelmäßig Geschichten. Eltern aus dem türkischen Sprachraum lesen dagegen seltener vor - und zwar unabhängig vom Bildungsniveau. Türkischstämmige Eltern mit hohem Bildungsniveau lesen immer noch seltener vor als russische Eltern mit einfacher Bildung.

derStandard.at: Warum ist das so?

Ehmig: Natürlich ist es nicht so, dass türkische Eltern ihre Kinder nicht fördern wollen - im Gegenteil. Wir wissen, dass Eltern mit Migrationshintergrund sogar einen sehr starken Wunsch haben, dass ihre Kinder eine gute Bildung bekommen. Aber die Zuständigkeit dafür sehen Eltern aus bestimmten Herkunftsländern weniger bei sich selbst als vielmehr bei den Schulen und beim Staat. Der muss ihrer Ansicht nach dafür sorgen, dass ihre Kinder eine gute Bildung bekommen.

Das Selbstverständnis der Eltern als Bildungsakteure ist da weniger ausgeprägt. Das behindert natürlich den Erfolg von Bemühungen, diese Eltern zum Vorlesen zu bringen. Da müssen wir ein Bewusstsein vermitteln. (Lisa Mayr, derStandard.at, 18.10.2012)