Großer Einsatz: Marisol Montalvo (als Lulu).

Foto: Gunnar Geller /Gestaltung: Blotto Design

Als Alban Berg 1934 starb, hinterließ er eine unvollendete Lulu. So blieb es beim zweiaktigen Fragment, bis Friedrich Cerha 1979 eine Ergänzung des dritten Aktes vornahm. Auch danach gab es Versuche, aus Bergs Originalskizzen eine neue Version zu wagen. Vor zwei Jahren etwa vorsichtig-verhalten durch Eberhard Kloke. Vorsichtig ist Olga Neuwirth bei Ihrem Lulu-Versuch nicht. Sie hat nicht nur einen neuen dritten Akt komponiert, sondern auch die beiden originalen Akte für 27-köpfiges Jazzorchester inklusive einer kleinen Streicherbesetzung bearbeitet und neu instrumentiert. Was seine Reize hat.

Wiedererkennbare Gefährten

Neuwirth lässt ihre American Lulu nicht nur in Englisch singen, sie hat auch das Personal umbenannt und Ort und Zeit in das New Orleans der 1950er und New York der 1970er verlegt. In der Neuen Welt heißt nur Lulu noch Lulu. Sie avanciert dort zur Edelprostituierten, die sich offenbar auch im etwas fortgeschrittenen Alter Pelz und Liebhaber aussuchen kann. Das am Ende eingeblendete Schockfoto einer zugerichteten Leiche ist da im Grunde nur eine Option fürs Lebensende. Da sie verinnerlicht hat, wie der Männerladen läuft, wären andere Varianten, auch eine afroamerikanische Lulu, denkbar. Die bekannten Männer Lulus wiederum sind, selbst wenn Dr. Schön zu Dr. Bloom und sein Sohn Alwa zu Jimmy geworden sind, in der Neuen Welt leicht wiederzuerkennen.

Neuwirths Neukomposition des dritten Aktes hat atmosphärische Dichte. Gleichwohl verzettelt sich der Text in einer etwas zu privat geratenen Streiterei von Lulu und Geschwitz. Lulus eher beiläufig konstatierte Luxuseinsamkeit erreicht hier nicht die Wucht der letzten Sätze der Geschwitz oder die Größe, die der tiefe Fall Lulus etwa bei Cerha hat. Wie man sich überhaupt fragt, warum es Neuwirth mit ihrer Lulu in die Neue Welt gedrängt hat. Dass ihre Gründe, die mit einer "neuen, weiblichen" Sicht auf Lulu begründet werden, nicht von selbst überzeugen, mag indes auch an der szenischen Umsetzung liegen.

So zieht sich das russische Film- und Regietalent Kirill Serebrennikov bei seiner Inszenierung auf ein durchaus reizvolles Schwarz-Weiß-Ambiente (mit sehr schönen künstlich gealterten Videoeinspielungen von Gonduras Jitomirsky) und eine wohlfeile ästhetische Adaption zurück (etwa von Edward Hoppers berühmtem Bild Nighthawks und einem Penthouse über dem nächtlichen Manhattan). Ansonsten erzählt er jedoch, rampennah und brav, mit viel nackter Haut, vor allem nach.

Das Ensemble gibt sein Bestes: von Marisol Montalvo (wie schon in Calixto Bieitos Basler Lulu) mit vollem Körpereinsatz, wenn auch etwas kleiner Stimme in der Titelpartie über Della Miles mit ihrem importierten unopernhaften Charme als Eleanor und Claudio Otellis kraftvollem Dr. Bloom im grauen Anzug bis zu Rolf Romei als Jimmy mit James-Dean-Tolle. Johannes Kalitzke war diesmal als Dirigent der hilfreiche Anwalt seiner Komponistenkollegin Neuwirth. Freundlicher Applaus. (Roberto Becker, DER STANDARD, 2.10.2012)