Mit gezieltem Blick den Draht zur wilden Natur wiederherstellen, die in der Großstadt schlummert, will Künstler Roland Maurmair in der Vorlesung "Urban Wilderness".

Foto: STANDARD/Fischer
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Wien - Im Wiener Stadtpark reiht sich eine grüne Parkbank an die nächste. Zwei davon haben Roland Maurmairs Aufmerksamkeit geweckt. Sie sind weiß, grau und braun gescheckt. Der Blick nach oben macht ein Taubenwohnzimmer ausfindig. Auch vorbeispazierende Touristinnen haben diese Spur richtig interpretiert und beschleunigen ihren Schritt unter dem gefährlichen Ast.

Urbane Wildnis ist das Thema des jungen Tiroler Künstlers. Den Blick dafür zu schärfen, mit wie vielen Lebewesen der Mensch sich die Stadt teilt und wie sich die Bewohner den Raum unterschiedlich zunutze machen, ist zentral in seiner künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeit.

Im kommenden Semester wird Maurmair erstmals "Urban Wilderness" an der Universität für angewandte Kunst lehren. Von Lehre im klassischen Sinn möchte er aber eigentlich nicht sprechen, Impulsgeber will er sein. Wie die Naturbeobachtung in die künstlerische Produktion einfließen kann, ist den Studierenden selbst überlassen.

Philosophisch beeinflusst ist er unter anderem von Félix Guattari und Gilles Deleuze, die postmoderne Theorien zum Nomadentum und Spurenlesen schrieben, sowie Ansätze des Konstruktivismus und der Relativität von Wahrnehmung.

Auch das Verhältnis zwischen dem Stadtleben und sogenannten Zivilisationskrankheiten, wie Burnout oder Aufmerksamkeitsdefizit, will Maurmair thematisieren; den Begriff des "Natur-Defizit-Syndroms" beleuchten.

Neben philosophischen Texten, Büchern, Filmen und Gastvorträgen, die sich mit urbaner Natur beschäftigen, zählt er das bewusste Hinausgehen, das Schärfen von Aufmerksamkeit, Blick und Neugierde zu seinen Unterrichtsmethoden.

Weitwinkel statt Tunnel

"Wir müssen bestimmte Gehirnmuster erlernen, die uns erlauben, den Draht zur Natur wiederherzustellen", sagt Maurmair. So soll statt des konditionierten Tunnelblicks ein Weitwinkelblick trainiert werden. Zwar ist dieser weniger scharf, fasst aber ein größeres Bild und kann besser Bewegung wahrnehmen.

Aus dem Stadtpark-Wirbel, Entengeschnatter, Blaulichtsirene und Klingeln der Straßenbahn, hört man ein helles Rufen heraus. "Ein Specht", sagt Maurmair, "manchmal ist es interessanter, dem leisesten Vogel zuzuhören als dem lautesten." Die Vogelwelt interessiert ihn speziell. Als Forschungsgegenstand und vor allem künstlerisch. Maurmair hat sich viel mit Survival, Spurensuche und "primitivtechnologischen Skills" beschäftigt, sein Zugang bleibt aber der eines Künstlers, betont er. Die Vorlesung ist am Institut für Kunst und Wissenstransfer der Angewandten angesiedelt, wo Maurmair auch promovierte. Ein wahres Paradies für Spurensucher bietet der Wienfluss, der auf Stadtparkhöhe derzeit einem Rinnsaal gleicht. Tausende Möwen- und Rattenfüße sind in den Schlamm eingezeichent. Darin versunken ein blauer Flipflop.

Menschenspuren seien nicht zu vernachlässigen. "Auch er ist ein Lebewesen", schmunzelt Maurmair. Einen nachhaltigeren Eindruck hat eine Ente gemacht. Sie promenierte in feuchtem Zement. "Beton ist super, überall Spuren", sagt Maurmair und betont, ihm gehe es nicht darum, das böse Graue gegen das gute Grüne auszuspielen.

Wenn wir durch die Stadt laufen, folgen wir bestimmten Signalen, erklärt er. Ein Schild sagt, hier nicht stehen, der asphaltierte Weg, hier gehen. Ihm geht es darum, alterna-tive Orientierungsmechanismen auszuloten. Was auch heißt, nach anderen Indizien Ausschau zu halten als dem kleinen blauen Punkt der Navigations-App des Smartphones.

Großstadtdschungel, in ihm steckt mehr wilde Natur, als ihm zugetraut wird. Blenden wir die pflanzlichen und tierischen Mitbewohner aus, entgeht uns Essenzielles, ist die Devise. Sachdienlicher Hinweis: Die Vorlesung findet bei jeder Witterung statt. (Julia Grillmayr, DER STANDARD, 12.10.2012)