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Ivor Bolton zur Staatsoper: "Von den großen Opernhäusern der Welt ist sie meiner Meinung nach das Haus mit der größten Intimität."

Foto: Kerstin Joensson/dapd

Stefan Ender sprach mit ihm über den Opernrevoluzzer Gluck und die Vorzüge der Staatsopernakustik.

STANDARD: Wenn Sie die Musik von "Alceste" jemandem beschreiben müssten, der sie noch nie gehört hat, welche Charakteristika würden Sie anführen?

Ivor Bolton: Es ist in höchstem Grad lyrische Musik, Gluck hat ein Händchen dafür: Speziell in den Arien von Alceste selbst bekommt man Wundervolles zu hören. Die Musik kann aber auch einen sehr noblen, grandiosen Gestus haben - was hauptsächlich in den Chorpassagen ausgedrückt wird. Und sie ist mitunter sehr dramatisch, ich denke da etwa an die Szenen mit den Göttern der Unterwelt.

STANDARD: Gluck ist als der große Reformer in die Operngeschichte eingegangen, er hat gegen die Formalismen, aber auch die Exzesse der barocken Oper angekämpft: gegen die Da-capo-Arien, die Koloraturmanie der Starsänger. War seine Absicht, wieder näher an Monteverdis Idee der Oper zu kommen: dass die Musik unmittelbar dem Wort zu dienen und zu folgen hat?

Bolton: Grundsätzlich ja. Gluck hatte sich natürlich trotz seines Reformeifers in einem viel festeren Struktursystem zu bewegen als Monteverdi. Monteverdi war radikal.

STANDARD: Wie haben sich Glucks Neuerungen etwa auf dem Gebiet der Arie ausgewirkt?

Bolton: In der Barockzeit, bei Georg Friedrich Händel etwa, werden in einer fünfzehnminütigen Arie drei Zeilen Text transportiert. Der Inhalt dieses Textes wird durch die Musik wie in einem Prisma aufgeteilt und kann in all seinen Facetten schillern. Gluck macht das nicht. Es gibt bei ihm die konkrete Darstellung eines Gefühls - präzise und konzis. Fast wie in Echtzeit, könnte man eigentlich sagen.

STANDARD: Die Musik von Christoph Willibald Gluck ist pur, klar, schnörkellos ...

Bolton: ... nein, sie ist nicht schnörkellos! Man sagt immer, Gluck habe Verzierungen rausgeschnitten. Er hat sie nicht rausgeschnitten, er hat sie nur anders in die Partitur eingeschrieben.

STANDARD: Ist die respektable Größe der Wiener Staatsoper ein Problem für Glucks Musik, für das Freiburger Barockorchester? Mussten Sie die Streicher stärker besetzen als geplant?

Bolton: Nein, da gibt es überhaupt kein Problem. Ich glaube sogar, zu Glucks Zeiten gab es mehr Streicher, als wir hier haben! Ich glaube auch, dass es damals zumindest in Paris auch schon einige Säle gab, die das Volumen der Wiener Staatsoper hatten, wenn nicht sogar ein größeres. Und ich liebe ja die Akustik der Wiener Staatsoper! Von den großen Opernhäusern der Welt ist es meiner Meinung nach das mit der größten Intimität. Die Hufeisenform ist relativ eng, das Orchester kommt im offenen Graben gut zur Geltung.

STANDARD: Wir müssen natürlich auch kurz über die Unterschiede der italienischen Fassung von "Alceste" sprechen, die 1767 in Wien uraufgeführt wurde, und der knapp zehn Jahre später entstandenen französischen Fassung:

Bolton: Ach, ich mag beide Versionen. Die Französische ist doch etwas straffer, und die Figur der Alceste wird da nobler dargestellt. Gluck hat sich hier vielleicht dem französischen Geschmack nach mehr Abwechslung gebeugt. Was ja an sich nichts Schlechtes sein muss - es kann einem ja durchaus auch zu Neuem inspirieren. Die italienische Fassung von Alceste ist aber einheitlicher, der dritte Akt etwa ist diesbezüglich überzeugender.

STANDARD: Sie arbeiten schon seit längerem mit dem Freiburger Barockorchester zusammen. Was sind die Qualitäten dieses Klangkörpers?

Bolton: Die Musiker sind die besten! Die Streicher haben technisch virtuose Fähigkeiten und eine sehr einheitliche Art zu musizieren - viele sind ehemalige Studenten von Rainer Kussmaul. Und der Klang der Instrumente trägt auch wunderbar: Fünf Violinen hier nehmen es mit zehn Violinen eines klassischen Orchesters auf! Dann ist auch da das Wissen der Musiker um die Literatur sehr groß. Und sie arbeiten schon lange in einer konstanten Besetzung zusammen. Manche Barockorchester werden ja von Projekt zu Projekt vom Handy des Orchestermanagers aus neu zusammengestellt - das ist bei den Freiburgern keinesfalls so. Und die Freiburger haben ihren hohen spielerischen Standard immer gehalten, das ist ja nicht bei allen Barockorchestern so, die demokratisch organisiert sind.

STANDARD: Sie arbeiten und proben ja hier in der Stadt, in der Christoph Willibald Gluck mehrere Jahrzehnte gelebt und gearbeitet hat. Hatten Sie schon Zeit, in Wien ein wenig den Spuren des Komponisten Glucks nachzugehen?

Bolton: Nein, leider, es gab da keine Zeit. Ich nehme es mir jedes Mal vor, wenn ich in Wien bin. Aber es gibt so viel zu tun - bei den Proben ... Aber nach der Premiere werde ich hoffentlich dazu kommen. (Stefan Ender, DER STANDARD, 7.11.2012)