"Glucks Radikalität hat mich inspiriert." Dirigent Alessandro De Marchi.

Foto: Innsbrucker Festwochen / Vandory

Wien - Das Interview hätte eigentlich schon beginnen sollen, da wird hausintern noch eifrig über die Orchesteraufstellung diskutiert. Die Kontrabässe und Violoncelli sollen möglichst nicht nebeneinander, sondern einander gegenüber positioniert sein. "Wir wissen einiges über historische Anordnungen", sagt Alessandro De Marchi. "Wenn die Bassgruppe geteilt wird, erhält man einen Stereoeffekt. Und den möchte ich auch gerne haben."

Die Partitur unter dem Arm des Dirigenten ist gespickt mit Eintragungen, Büroklammern und kleinen Zettelchen. "Ja", lacht De Marchi, "die Noten sind nicht wirklich vollständig, zum Beispiel in Dynamik und Artikulation."

Außerdem, erzählt er, habe er für die Neuproduktion von Glucks Iphigénie en Aulide eine eigene Fassung mit etlichen Kürzungen erstellt, was die Büroklammern erklärt. "Wir haben etwa viele Wiederholungen gestrichen, wenn ein Refrain 100-mal kommt, vor allem aber eine große Ballettmusik von 40 Seiten. Es wäre komisch, eine Ballettmusik zu spielen ohne Tänzer. Wir haben nämlich keine."

Eine runde Sache

Diese Entscheidung geht auf das Konzept von Torsten Fischer zurück, der den Gluck-Zyklus im Theater an der Wien inszeniert. De Marchi sieht die Sache pragmatisch: "Wenn ich diese Oper bei einem Alte-Musik-Festival machen würde, wäre es interessant, sie in voller Länge zu spielen. Hier geht es uns aber darum, eine logische, runde Sache aus dem Material zu machen, das wir haben."

Knackpunkt ist für den künstlerischen Leiter der Innsbrucker Festwochen für Alte Musik, der in den nächsten Jahren auch weiter in Wien in Erscheinung treten wird, die Frage nach Glucks Intentionen: "Wir wissen nicht, inwieweit er sich für die Konventionen in Paris (Ort der Uraufführung 1774, Anm.) verbiegen musste. Sein Wunsch nach einer gewissen Radikalität ist aber offenkundig. Nach seiner Reform der italienischen Oper wollte er einen Schritt weitergehen und auch die französische reformieren, die lächerliche Trennung der Stile aufheben und eine 'musica universale' schaffen. Das hat mich inspiriert."

Und die Zeiten haben sich doch geändert: "Von Gluck wissen wir, wie er mit dem Orchester, dem Chor und den Sängern gekämpft hat, wie er gegen die Wand der französischen Tradition angerannt ist. Die Sänger wollten riesige Freiheiten, die Gluck nicht mehr wollte - die ganzen Verzierungen, die so überbordend waren, dass man die Melodien gar nicht mehr erkennen konnte."

Von der eigenen Arbeit hingegen berichtet der Dirigent: "Unsere Proben waren ziemlich harmonisch, aber wir mussten schon auch vieles diskutieren - auch weil Glucks Notentext eigens für seine Situation in Paris geschrieben ist und manche Artikulationszeichen nur aus der damals üblichen Praxis erklärbar sind."

Dem Orchester streut er jedenfalls Rosen: "Die Wiener Symphoniker sind sehr stilbewusst und haben eine enorme Flexibilität. Und es ist inzwischen besonders unter jüngeren Musikern insgesamt sehr verbreitet, über die historisch informierte Aufführungspraxis gut Bescheid zu wissen."

Welche Instrumente man dafür verwendet, ist zwar nicht ganz unwichtig, aber: "Die Hauptsache ist, dass der Klang im Kopf ist. Der Rest kommt dann fast von allein." Die Arbeit mit einem Symphonieorchester findet der Maestro, der sich als Spezialist für das Repertoire "zwischen Monteverdi und Verdi" betrachtet, auch für sein eigenes Metier nützlich: " Ein Dirigent, der sich nie mit einem solchen Orchester auseinandersetzt, beherrscht sein Handwerk nur partiell. Denn man muss hier andere Dinge zeigen können als bei einem Barockensemble."

Des Vemittelns und Forschens ist ohnehin kein Ende: "Es ist eigentlich schrecklich: Je mehr man entdeckt, desto mehr Widersprüchliches findet man auch. Letztlich ist Aufführungspraxis eine Frage der Wahl. Es gibt aber schon einen großen Unterschied, einfach aus dem Bauch heraus zu entscheiden oder das nach vielen Forschungen zu tun. Ein Bauch, der viel weiß, entscheidet anders." (Daniel Ender, DER STANDARD, 8.11.2012)