Dynamisch, energetisch, revolutionär: So kündigte sich der Futurismus an.

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Wien - Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Beobachter ziehen Bilanz, Hellseher haben Hochsaison. Was wird die Zukunft bringen? Auch dieses Jahr werden Berufene und Nichtberufene, Wissenschafter und Hobbyforscher einen Blick in die Glaskugel werfen, um vorauszusagen, was uns die nächsten Jahre erwarten wird.

Das Kommende hat den Menschen schon von alters her Sorgen bereitet. Bereits bei den antiken Schöpfungsmythen Babyloniens tauchen apokalyptische Vorstellungen auf, wie etwa im Gilgamesch-Epos. Astrologen und Auguren machten im alten Griechenland glänzende Geschäfte. Keine politische Entscheidung, keine Expedition, kein Feldzug wurde unternommen, ohne die günstige Prognose eines Deuters oder eines Orakels abzuwarten.

In der Endzeitvision, die der Prophet Johannes empfing, heißt es: "Es ward ein Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, und fiel auf die Erde; und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte [... ] es fuhr wie ein großer Berg mit Feuer brennend ins Meer; und der dritte Teil des Meeres ward Blut [...]".

Der Weltuntergang dräute in allen Kunstepochen. Albrecht Dürer zeichnete die vier Apokalyptischen Reiter, die Tod und Verderben über die Erde bringen. Das Mittelalter war geprägt von Furcht, Fegefeuer und Inquisition. Damals sorgte man sich weniger um die Zukunft als die unmittelbare Gegenwart: Es gab Epidemien, Kriege, Hunger. Das Jahrhundert, wie wir es in der heutigen Zeitrechnung kennen, existierte nicht. "Saeculum" stand in erster Linie für "Generation". Der Zeit haftete der Makel des Vergänglichen an - sie stand im Gegensatz zur göttlichen Ewigkeit.

Erst mit der Aufklärung kippte dieses Bild. Nicht mehr Gott war der Autor der Geschichte, sondern die Individuen. Der rationale Mensch wollte Gewissheiten erlangen, das Unsichere der Zukunft bezwingen. Der Fortschrittsglaube, die Überzeugung, Künftiges zu konstruieren, ersetzte die christliche Heilserwartung. Der Fortschritt war die psychologische Nahrung, aus der sich die Moderne speiste. Viele Gemälde der Neuzeit atmen den Geist des Aufbruchs. Zum Beispiel in Eugène Delacroix' Gemälde La Liberté guidant le peuple, in dem Marianne dem französischen Volk den Weg weist. Es wird vorwärtsgehen, das war das Credo.

Zukunft als Projektion von Hoffnungen: Der französische Surrealist Eric Tallarida hat sich des Topos in seinem Werk La porte de l'avenir (Die Tür der Zukunft) angenommen. Er zeigt in der Zentralperspektive eine von Bäumen gesäumte Ebene, die wie eine Laufstrecke anmutet. Vor dem Start steht ein Podest, aus dem ein Feuer lodert. Den Fluchtpunkt markiert ein Himmelskörper. Das Gemälde verdeutlicht die Linearität des Fortschritts.

Claude Monet hat der Zukunft eine Bresche geschlagen. Seine Spätwerke vermitteln den Ausdruck eines kosmischen Allgefühls, in dem sich Himmel und Erde, Verstand und Emotionen verbinden. Monet gehört zu den Hauptvertretern der Moderne. Modernität wird in der Kunst als Empirismus des Visuellen und Vergessens der Tradition begriffen.

Im 20. Jahrhundert hat das Futur einen solchen Furor entfacht, dass es die Zukunft zum eigenen Genre erhob: Der Futurismus war geboren. Im Jahr 1903 publizierte Filippo Tommaso Marinetti im französischen Figaro das Futuristische Manifest. Der Autor lancierte das Pamphlet als Aufruf zur radikalen Erneuerung der Künste. "Velocità, dinamica, tecnica, guerra!" - "Geschwindigkeit, Dynamik, Technik, Krieg!" - so war die militante Rhetorik überschrieben.

Unter dem Banner des Fortschrittsglaubens postulierte der italienische Futurist seine Thesen. "Nous voulons chanter l'amour du danger, l' habitude de l'énergie et de la témérité." Dynamisch, energetisch, revolutionär. Marinetti rief dazu auf, Museen und Akademien zu zerstören, verdammte deren Personal als "Krebsgeschwür" und glorifizierte den Krieg.

Zukunft des Fortschritts

Die Futuristen planten nichts Geringeres als die Zerstörung der Vergangenheit. Der Gedanke, Raum und Zeit zu synthetisieren, fand in Umberto Boccionis Skulptur Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum (sie ziert heute das 20-Cent-Stück Italiens) seinen plastischen Ausdruck. Der italienische Künstler wollte eine Figur in Bewegung darstellen. Doch die Dynamik der Futuristen ist erstarrt. Erst die Postmoderne kann wohl fragen, ob Fortschritt noch eine Zukunft hat.

Die Zukunft ihrerseits hat jedenfalls an Pathos verloren. Ob morgen, am 21. Dezember, das Ende der Menschheit droht, wie es der Maya-Kalender prophezeit, bleibt noch kurze Zeit abzuwarten. Die Geschichte geht in jedem Fall weiter.     (Adrian Lobe, DER STANDARD, 20.12.2012)