Detlef Horster: "Wir haben viele neue Probleme,die wir mit der traditionellen Ethik nicht bewältigen können."

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STANDARD: Westlich-säkulare Gesellschaften geraten immer öfter in Konfliktsituationen, in denen der Ruf nach mehr oder neuer Ethik kommt. Aber woher diesen ethischen Kompass nehmen?

Horster: Das ist eine Sache, die wir entwickeln müssen. Wir haben viele neue Probleme, zum Beispiel Embryonenforschung, In-vitro-Fertilisation, Pränataldiagnostik, Präimplantationsdiagnostik, Genpatentierung, Sterbehilfe – alles Dinge, die wir mit der traditionellen Ethik nicht bewältigen können, und bei all diesen Fragen wird Information immer wichtiger, sodass man sagen muss, die Information über diese neuen, vor allem medizinischen Techniken, gehört inzwischen mit zur Ethik. Ich würde sagen, Information ist ein moralisches Problem.

STANDARD: Und wie löst man das?

Horster: Wir müssen uns umschauen, bei wem wir uns informieren, wenn wir moralische Probleme lösen wollen. Etwa die Frage der Beschneidung, die gerade stark diskutiert wird. Das ist ein klassisches Dilemma. Da ist auf der einen Seite die Religionsfreiheit, die wir gewähren und gewähren müssen – was also moralische Pflicht ist -, und auf der anderen Seite die körperliche und seelische Integrität des Menschen, der beschnitten wird.

STANDARD: Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Horster: Ich habe dazu ein Vier-Schritte-Schema entwickelt, mit dem man für sich die richtige moralische Entscheidung ableiten kann. Erster Schritt: Welche moralischen Pflichten stehen hier in Konkurrenz? Der zweite Schritt: Habe ich alle mir möglichen Informationen eingeholt? Dann: Was ist für mich wichtiger, was hat Priorität – Religionsfreiheit oder körperlich-seelische Integrität? Und zuletzt muss man sich fragen: Kann ich mit dieser moralischen Entscheidung auch morgen noch in den Spiegel schauen, ohne rot zu werden, und sie mit meinem Gewissen vereinbaren?

STANDARD: Wie kann man dieses Vier-Schritte-Modell auf den Staat umlegen? In Österreich gibt es bereits eine Anzeige gegen den Wiener Gemeinderabbiner und einen muslimischen Arzt wegen Beschneidung sowie eine Gegenklage der Kultusgemeinde.

Horster: Alles, was uns an moralischen Regeln wichtig ist, wird ins Recht transformiert. Man darf niemanden umbringen, man darf niemanden verletzen etc. Die Wahrung der körperlichen und seelischen Integrität ist ganz wichtig. Die Abgeordneten haben Gewissensfreiheit, und die darf bei solchen Entscheidungen nicht unter den Fraktionszwang gestellt werden. Besonders da, wo es um wichtige moralische Fragen geht.

STANDARD: Im österreichischen Parlament sitzen aber mehrheitlich nichtjüdische und nichtmuslimische Abgeordnete. Dürfen Nichtreligiöse oder andere Konfessionen Juden und Muslimen in dem Fall vorschreiben, wie und ob sie ihre religiösen Riten auch heute noch durchführen dürfen?

Horster: Nein, aber die Abgeordneten haben zumindest die Pflicht zu überlegen, ob es so sein muss, denn man kann auch jüdischen Glaubens sein, ohne beschnitten zu sein. Die Frage, die man stellen muss, lautet: Ist es nicht an der Zeit, dass man einen Ritus nicht auch mal ändert? Eine vergleichbare Sache war die Ohrenbeichte. Die kannte man bis zum vierten Laterankonzil 1215 nicht, weil die Gemeinde als Ganze vor Gott ihre Sünden bekannte. Die Ohrenbeichte war ein Einschnitt, aber man hat weiterhin geglaubt, man war weiter Christ. Das heißt: Hier wurden Rituale verändert, und es änderte nichts an dem Glauben. Da frage ich mich: Ja, warum nicht auch das Ritual der Beschneidung? Aber noch einmal: Ich kann den jüdischen Gläubigen nichts vorschreiben. Die müssen da schon selbst nachdenken.

STANDARD: Brauchen wir für die gesellschaftliche Moralentwicklung Ethikunterricht in der Schule?

Horster: Ja, ich halte Ethikunterricht für außerordentlich wichtig, weil da die Unterschiede der verschiedenen Religionsgemeinschaften deutlich gemacht werden. Wir lernen unsere moralischen Regeln im Umgang mit anderen. Darum ist das Nachdenken über das, was für uns in der Gesellschaft selbstverständlich ist an moralischen Regeln, sehr wichtig.

STANDARD: In Österreich will die ÖVP verpflichtenden Ethikunterricht nur für die Kinder, die keinen konfessionellen Religionsunterricht haben. Was halten Sie davon?

Horster: Das halte ich nicht für sinnvoll. Man sollte die Möglichkeit haben, an einem Religionsunterricht teilzunehmen, aber unbedingt auch am Ethikunterricht.

STANDARD: Sollen auch Religionslehrer Ethik unterrichten dürfen?

Horster: Davon rate ich dringend ab. Ich finde, dass Religionslehrer in Bezug auf die Unterscheidung von Gemeinschaftsmoral und gesellschaftlicher Moral voreingenommen sind, weil sie in ihrem Unterricht immer auch die Moral ihrer religiösen Gemeinschaft vermitteln müssen. Man braucht Lehrer, die in diesen Fragen neutral sind – und ausgebildet. Wenn man diesen Unterricht macht, schadet es nicht, wenn man Philosoph ist.

STANDARD: Sie konstatieren einen starken Einfluss der "normativen Kraft des Faktischen" auf den gesellschaftlichen Moraldiskurs. Was meinen Sie damit?

Horster: Ich erkläre es an der Pränataldiagnostik und der Messung der Nackenfalte des Fötus. Bei einer Verdickung um drei Millimeter sagt man, ist die Wahrscheinlichkeit für Trisomie 21 (Down-Syndrom) hoch, bei einer Verdickung um sechs Millimeter sogar fast wahrscheinlich. Eine Kollegin, die Sonderpädagogin ist und die sagte: Ich will es nicht wissen, ich weiß, was es bedeutet, und kann damit umgehen – und trotzdem hat man es gemacht und ihr gesagt! Weil die Mediziner sagen, es ist gut und wird immer gemacht, machen wir es weiter. Nach dem Befund "verdickte Nackenfalte", der nur eine Wahrscheinlichkeit angibt, gibt es in Deutschland 92 Prozent Abtreibungen. Ich habe eine Frau erlebt, die danach fragte: Und jetzt? Der Arzt antwortete: In der Regel nehmen wir jetzt eine Abtreibung vor. Das zeigt, da ist eine moralische Dimension drin, die gar nicht bedacht wird, und wenn man es dann immer weiter macht, ohne darüber zu reflektieren, nenne ich das die normative Kraft des Faktischen. Und die halte ich für etwas sehr Erschreckendes.

STANDARD: Ist die Technik den Moralstandards davongelaufen?

Horster: Ja. Wir finden vieles vom technischen Fortschritt natürlich gut, weil es der Gesundheit dient. Das ist unter moralischen Aspekten auch ein hoher Wert. Unlängst kam in Deutschland ein neuer Bluttest auf den Markt, der das Trisomie-21-Risiko bestimmen kann. Da war die Bundesregierung so weit, die Frage zu stellen, ob man diesen Test verbietet, und es gab eine breite öffentliche Diskussion. Die halte ich bei solchen Problemen für sehr wichtig.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 22.12.2012)