In "Foreign Policy/The Cable" wurden am Mittwoch Details über ein Treffen amerikanischer Senatoren unter der Leitung von John McCain mit dem ägyptischen Präsidenten Mohammed Morsi veröffentlicht: Demnach hätten die US-Besucher Morsi "eine Gelegenheit" geboten zu erläutern, was er denn damit gemeint hätte, als er sagte, dass seine antisemitischen Äußerungen im Jahre 2010 "aus dem Kontext genommen" wurden.

Morsi hatte damals in einer Rede dieses typische Gemisch von antiisraelischen Tiraden mit hard-core antisemitischem Schmutz von sich gegeben, das der Muslimbruder-Ideologe Sayyid Qutb (hingerichtet 1966) in den islamistischen Diskurs eingebracht hat: Juden seien "Blutsauger, die Palästinenser attackieren", und sie seien "die Nachkommen von Affen und Schweinen".

Morsis Weltbild

Josh Rogin, von dem der Artikel stammt, berichtet, auf den Druck der Senatoren hätte Morsi reagiert, indem er darauf hinwies, dass die Medien in den USA eine große Sache daraus machen würden, und diese Medien ja, wie jeder wisse, "von gewissen Kräften kontrolliert werden", die ihm übel wollten. Es wirft ein bezeichnendes Bild auf Morsi, dass er glaubt, quasi "unter uns Politikern und Medienopfern" mit den US-Senatoren sein Weltbild teilen zu können. Er glaubt wirklich daran. Das spielt für ihn eine größere Rolle als die Frage, wie er denn als Präsident des größten arabischen Landes und als Realpolitiker, als der er sich in der letzten Gaza-Israel-Krise bereits erwiesen hat, mit seinen populistischen Ausritten von früher umgeht.

Zwischen Pragmatismus und Ideologie

In der Praxis sind die Muslimbrüder hin und hergerissen zwischen dem Pragmatismus, der jetzt von ihnen gefordert wird, und ihrer ideologischen Grundausstattung, die ja auch bei ihrer Anhängerschaft nicht verschwunden ist. Ein interessantes Beispiel dafür war ein Interview, das Essam al-Erian, ein prominentes Mitglied der Bruderschaft, Ende Dezember der Zeitung Asharq al-Awsat gab. Der Inhalt dieses Interviews wird je nach Standpunkt sehr unterschiedlich interpretiert. Erian rief - anscheinend - die ägyptischen Juden darin auf, Israel - pardon "das historische Palästina" - zu verlassen und wieder nach Ägypten zurückzukehren. Ägypten könne keinem Ägypter die Heimkehr verwehren, auch ihre Besitztümer könnten die Juden zurückhaben.

Die Begründung für seine Einladung lieferte er jedoch auch mit und hob sie in späteren Gesprächen hervor: "Warum hat Nasser sie ausgewiesen? So wurden sie dazu gebracht, an der Besetzung arabischen Lands teilzunehmen." Ägyptische Juden gehören demnach nicht nach Israel, sondern nach Ägypten. Und dieses Israel, sagte Erian auch noch, würde es ohnehin nicht mehr länger als zehn Jahre geben.

Entsetzen, Empörung, Theologie

Die Reaktionen in ihrer Bandbreite waren 1. Entsetzen im Westen, dass ein ägyptischer Politiker die Vernichtung Israels ankündigt, 2. Empörung in Ägypten, dass Erian die nationale Sicherheit Ägyptens gefährdet, indem er den "Zionisten" das Land öffnet und ihnen ägyptisches Vermögen nachschmeißen will - der Islamist Erian handelte sich sogar eine Anzeige eines islamistischen Anwalts ein. Die 3. Einschätzung nimmt die Diskussion über die ägyptische Verfassung in Betracht, die kurz zuvor in einem Referendum angenommen worden war. In ihr sind die abrahamitischen Religionen ganz klar gegenüber den nicht-abrahamitischen besser gestellt. Das heißt, die Muslimbrüder müssen nun erklären, dass gegen Juden theologisch nichts einzuwenden ist (was wieder eine Abkehr von den Lehren des bereits erwähnten Qutb ist), wenn sie eben keine Zionisten sind. 

Auch für Morsis Andeutung - gesagt hat er es nicht explizit -, dass die Juden (wobei er hier wohl nicht zwischen Juden und Zionisten unterscheidet) die US-Medien kontrollieren, gibt es aus seiner Sicht einen Kontext. Denn soeben ist eine neue Charge, das heißt 20 Stück, von neuen F-16 Kampfjets für Ägypten im Anmarsch. Sie sind zwar nicht auf dem allerhöchsten technischen Stand, den es gibt (z.B. haben die Vereinigten Arabischen Emirate bessere erhalten). Und mit den F-35, die Israel in etwa zwei Jahren bekommen wird, können sie gar nicht mithalten. Aber immerhin, der Deal zeigt, dass die US-ägyptische Zusammenarbeit auch auf militärischem Gebiet aufrecht bleibt. Dass da Lobbyisten gerne daran erinnern, dass Morsi zwei Gesichter hat, ist weiter nicht überraschend - dazu sind sie Lobbyisten. Und es stimmt ja auch. Morsis Schluss zur Beherrschung der Medien "durch gewissen Kräfte" bekräftigt das nur.

Der usurpierte Song

Noch eine andere Episode zum ägyptisch-israelischen Verhältnis sei hier erzählt, mit ein paar Gedanken zum Ägypten von heute am Ende. Anfang Jänner gab es in Ägypten ein kleines Rauschen im Twitterwald, nachdem der Sprecher für arabische Medien im Büro des israelischen Ministerpräsidenten, Ofid Gendelman, sich - so sahen es die Ägypter - an einem sehr populären ägyptischen Song vergriffen hatte. Als Reaktion auf das Ergebnis einer Umfrage, nämlich dass die Israelis zu jenen Bevölkerungen gehören, die am zufriedensten mit ihrem Land sind, twitterte Gendelman: "Ya biladi, ya biladi, ana bahibbik ya biladi" - Mein Land, mein Land, ich liebe dich, mein Land. (Nicht zu verwechseln mit der ägyptischen Nationalhymne Ya Biladi)

Was Gendelman, der seine Auswahl mit "Freude an ägyptischen Liedern erklärte", nicht bewusst gewesen sein dürfte: Das Lied stammt aus einem nationalistischen ägyptischen Film, der einen Luftangriff der israelischen Luftwaffe im April 1970 während des Abnutzungskriegs zum Inhalt hat, bei dem 30 Schulkinder in einer Schule in Bahr al-Baqar in der Provinz Sharqiya getötet wurden. Das Lied kommt dort in einem wirklich grausamen Kontext vor, eine Frau irrt durch die rauchenden Trümmer der Schule, Kinderstimmen aus dem Off formieren sich zu einem Chor.

Ein Song und der fehlende Kontext

So weit so schlecht. Interessant ist aber auch, dass dieser Song während der Revolution auch auf dem Tahrir-Platz oft gesungen wurde. Die Frage ist, ob den meisten Demonstranten der Kontext des Lieds bewusst war - und ob er irgendeine Rolle spielte. Man muss auch daran erinnern, dass damals die Behauptung vieler Reporter und Reporterinnen um die Welt ging, dass die Revolution rein nach innen gerichtet sei und dass ein außenpolitisches Umfeld überhaupt keine Rolle spiele. Manche verkündeten ja schon das Ende des arabisch-israelischen Konflikts.

Es gibt auch eine moderne Version des Songs auf Youtube, der die ägyptische Revolution zelebriert, ein - meiner persönlichen Meinung nach - ziemlich deprimierendes Dokument: Der Song wird begleitet von Clips, die nacheinander junge Männer zeigen, manchmal in einer militaristischen Umgebung. Ein Baby wird von Soldaten geherzt. Ein einziges Frauenbild kommt vor (wenn ich eines übersehen habe, bitte ich um Vergebung), und das sieht eher wie eines jener Fotos aus, die in Fotorahmen stecken, für deren Kauf geworben wird. Ein rotblonder Lockenkopf in Foto-Pose. Dieses Weltbild stimmt zwar nicht mit dem der Muslimbrüder überein, beruhigend ist es dennoch nicht. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 24.1.2013)