Modest Mussorgskis Zarenporträt "Boris Godunow" ist auch in der Urfassung von 1868/69, ohne Pause durchgespielt, ein gewaltiger Kraftakt. In den zwei Stunden fluten die Klangmassen auf hohem Erregungsniveau nur so aus dem Orchestergraben. Und klingt nicht so schroff, wie man es beim Analytiker Kent Nagano vermuten könnten. Für ihn ist es die letzte Neuproduktion als Generalmusikdirektor des Bayerischen Staatsorchesters, ehe er an die Staatsoper nach Hamburg wechselt.

Auch ohne die gängigen Instrumentierungen von Rimski-Korsakow oder Schostakowitsch wird diese Melange aus Historien-Panorama und Psychogramm eines Mächtigen zu einem dichten Klangstrom, der auf das Verhängnis zufließt. Dies tritt auf den ersten Blick mit dem Tod des Zaren ein. Auf den zweiten besteht es in der fatalistischen Konsequenz eines Gesellschaftsbildes, bei dem unkontrollierte Macht und brutale Gewalt zusammengehören. Während Boris an der Rampe effektvoll stirbt, bringt Thronräuber Grigorij im Hintergrund eigenhändig dessen Kinder um.

Dass er diese Diagnose nicht allein auf Russland beschränkt, macht der Katalane Calixto Bieito, der seine ästhetischen Brutalojahre als Schocker-Regisseur wohl hinter sich hat und zum konsensfähigen Vergegenwärtiger und Verdeutlicher avanciert ist, gleich zu Beginn klar, und das im wahrsten Wortsinn plakativ. Hinter einem Einsatzkommando in Kampfmontur an der Rampe drängt sich das Volk mit dem bestellten Jubel für Zaren Boris. Mit Porträtplakaten des gerade regierenden oder abgewählten Potentaten: Sarkozy, Putin, Bush jr., Berlusconi, und all die anderen üblichen Verdächtigen. Den Chor des Volkes hat Ingo Krügler angezogen wie für eine aktuelle Demo, Die Mönche, den Narren und die Wirtin wie Penner. Und die Regierenden tragen ziviles Anzugsgrau.

Auf der Bühne lässt Rebecca Ringst zunächst Nebel in die Leere wallen. Dann nähert sich ein stählernes Monstrum mit dem Zaren obendrauf. Bioto ist für seine Verhältnisse geradezu minimalistisch: Weder bei den Chorszenen, noch bei dem Gespräch, bei dem der alte Pimen (Anatoli Kotscherga) den jungen Grigorij (Sergey Skorokhodov) als Wiedergänger des von Boris ermordeten rechtmäßigen Zarewitsch den Floh ins Ohr setzt, den aktuellen Zaren vom Thron zu fegen, passiert nicht viel. Raumgreifend die Solonummer von Vladimir Matorins Penner (Mönch) Warlaam. Stark das Zeichen der Verkommenheit, wenn Fürst Schuiski ein Kind zwingt, den Gottes-Narren zu erschießen.

Vorbild Klitschko

Für die Selbstdarstellung des Zaren, sein Porträt als liebender Vater, seine Selbstzweifel und den Zusammenbruch, gibt der metaphorische Tanker den Blick in Innenräume frei. Hier spielen Vater und Fjodor (Yulia Sokolik ist eine Tochter) mit dem Weltenglobus wie Chaplin in seiner berühmten Hitler-Parodie. Eine Russlandkarte als Wandschmuck, über einem Konferenztisch ein Kristallleuchter, lauter Räume für eine gut ausformulierte Personenregie.

Wenn Fürst Schuiski (exzellent und fies: Gerhard Siegel) mit den Bojaren intrigiert, ist dies weitaus harmloser als reale Raufereien im Kiewer Parlament. Zum Glück für die Raufbolde hielt sich der Boxer und Abgeordnete Klitschko dabei zurück. Dessen 36-jähriger Landsmann Alexander Tsymbalyuk als Boris hat durchaus etwas von Klitschkos Ausstrahlung. Er fasziniert vor allem mit vokaler Noblesse. Dass er, wie auch ein beträchtlicher Teil der Protagonisten, mit dem russischen Idiom vertraut ist, gehört ebenso auf die Habenseite dieser Produktion. Es ist ein in sich stimmiger Opernabend geworden, an dem das Premierenpublikum nichts auszusetzen hatte. (Joachim Lange aus München, DER STANDARD, 20.2.2013)