Familientherapeut, Autor und derStandard.at-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Eine Userin schreibt:
Die Mutter meiner Freundin ist unheilbar an Krebs erkrankt. Die letzten zwei Jahre waren deshab sehr schwierig für meine Freundin. Sie fühlt sich müde und ist völlig aus dem Gleichgewicht. Sie spürt, dass es auch ihren Kindern schlecht geht, aber es gelingt ihr nicht, auf Bedürfnisse der Kinder einzugehen.

Meine Freundin ist ist verheiratet und hat drei Kinder. Die zwei Töchter sind fünfzehn und fünf Jahre alt, der Sohn neun. Sie standen der Großmutter immer sehr nahe. Sie fragen oft, ob sie Schmerzen hat und wie es ihr geht. Die Älteste hat verstanden, dass ihre Großmutter kein aktiver Teil ihres Lebens mehr sein wird.

Der neunjährige Bursch will verstehen, was los ist. Er fragt seine Großmutter ganz direkt, wann sie sterben wird. Er spricht ganz offen über seine Angst vor dem Sterben. Und er macht sich Sorgen um seine Eltern und hat Angst vor der Dunkelheit.

Die kranke Großmutter ist nun in einem Hospiz. Meine Freundin und ihr Mann sind unsicher, ob sie ihre Kinder dorthin mitnehmen sollen. Wie sollte der Abschied gestaltet sein? Inwieweit sollen die Kinder am Tod der Großmutter teilhaben? Und vor allem: Wie sollen die Eltern ihre Trauer ausleben - nur miteinander oder auch im Beisein der Kinder?

Jesper Juul antwortet:
Leider wird der Tod oft nicht als unausweichliche Tatsache des Lebens anerkannt. Er passt nicht in unser geschäftiges und durchgeplantes Leben. Dennoch ist er ein wichtiger Teil davon. Kinder sollten alles über den Tod erfahren dürfen, um ihn als Tatsache des Lebens zu begreifen. Das gibt ihrem Leben eine neue Perspektive und vermittelt ihnen ein tieferes Verständnis der Wirklichkeit.

Für die Eltern ist es wichtig, dass sie ihre Traurigkeit nicht verbergen. Traurigkeit ist ein notwendiger Teil des Lebens, sozusagen der untrennbare Zwilling des Glücklichseins. Noch wichtiger ist es, dass Eltern ein Vorbild für ihre Kinder sind. Wenn wir als Eltern unsere essenziellen Gefühle vor unseren Kinder verstecken, laufen wir Gefahr, dass sich unsere Kinder von ihren Gefühlen distanzieren. Damit würden sie die Qualität ihres Lebens als Kinder und später auch als Erwachsene einschränken. Kinder sind einfach Romantiker. Sie wollen, dass ihre Eltern glücklich sind – alleine oder gemeinsam. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass Eltern ihre Kinder immer wieder und kontinuierlich an ihren Emotionen teilhaben lassen. Dadurch eignen sich Kinder ihre Lebenskompetenz an.

Ich habe den Eindruck, dass der neun Jahre alte Junge dieser Familie den Weg vorgibt. Die ersten "philosophischen" Auseinandersetzungen mit dem Tod beginnen im Alter von etwa sechs Jahren. Mit neun Jahren nimmt der Sohn Ihrer Freundin den bevorstehenden Tod der Großmutter also als real wahr. Seine Reaktionen sind gesund und normal. Seine Eltern sollten ihn nicht vor diesen wichtigen Erfahrungen schützen.

Während der nächsten zwei bis drei Jahre braucht er wohl noch Begleitung, bis seine Gedanken und Emotionen zu einem integralen Bestandteil seiner Existenz geworden sind. So ist er für die nächste Situation, in der er mit einer ernsthaften Krankheit oder dem Tod konfrontiert wird, gut gewappnet. Dies hilft ihm letztlich, zu verstehen, dass auch er eines Tages sterben wird. Dieses Verstehen stärkt seine Empathie und hilft ihm, einen Bezug zum Tod seiner eigenen Eltern herzustellen, sobald es soweit sein wird.

Ihren Freunden sind die ersten Schritte nicht ganz so gut gelungen, was nicht heißt, dass es nun zu spät ist. Hospizmitarbeiterinnen und -mitarbeiter haben viel Erfahrung, wenn es darum geht, Menschen beim Abschiednehmen von ihren Lieben zu helfen. Es braucht eine Einladung an alle Beteiligten, ihren Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu verleihen.

In Momenten der Trauer kann Ihre Freundin zum Beispiel über die schönsten Momente mit ihrer Mutter erzählen. Lassen Sie sie von Ihren prägendsten Erfahrungen berichten. Wie hat die Mutter ihr Leben bereichert? Welche wichtigen Konflikte und Krisen gab es? Auch der Vater sollte von seinen Erlebnissen mit der Schwiegermutter erzählen.

Dann sind die Kinder an der Reihe. Wenn es ihnen zu schwer fällt, sich persönlich von ihrer Großmutter zu verabschieden, könnten sie vielleicht einen Brief schreiben, den die Mutter der Großmutter vorliest. Kleinen Kindern fällt es oft leichter, etwas zu zeichnen, das als Symbol für ihre schönen Erinnerungen oder auch ihre Traurigkeit steht.

Wenn die Großmutter stirbt, ist es für die Familie sehr wichtig, dass sie ihre Erinnerungen zusammenträgt, teilt und vor allem auch darüber spricht, was beim Begräbnis geschehen wird. In den Monaten nach dem Tod ist es wichtig, die Großmutter in der Familie "am Leben zu erhalten". Wenn Ihre Freundin an ihre Mutter denkt, so kann sie diese Gedanken mit ihren Kindern teilen. So gelingt es ihr vielleicht, ihre Kinder dazu zu bewegen, auch über ihre Gefühl zu sprechen.

Der Trauerprozess von Kindern unterscheidet sich sehr von dem der Erwachsenen: Erwachsene erleben oft eine lange Zeit der Traurigkeit und des Kummers. Kinder hingegen erleben Trauer in Schüben. Während sie in einem Moment noch Fußball spielen, quasseln oder sich streiten, finden sie sich im nächsten mitten in ihrem Trauerprozess wieder. Die Traurigkeit kommt quasi aus dem Nichts und verschwindet nach einiger Zeit wieder.

Die Eltern sollten ihre Aufmerksamkeit auf die Emotionen der Kinder richten und wenn möglich mit ihnen darüber sprechen. Das können ganz "banale" Gespräche sein – etwa darüber, wie die Mutter ihre Mutter erfahren hat, welche Frau und Mutter sie war. Das gibt vor allem der älteren Tochter die Möglichkeit, Vergleiche anzustellen, wo sie im Hinblick auf die beiden Frauen vor ihr steht.

Dadurch kann sie sich selbst besser kennenlernen und herausfinden, was sie ausmacht. Es wird auch die Mutter-Tochter-Beziehung stärken, indem sie einander als Individuen respektieren lernen und besser damit umgehen können, dass auch die große Tochter in naher Zukunft das Haus verlassen wird. Ihrer Freundin wird es auch in der Beziehung zu ihrem Ehemann helfen, wenn sie ähnliche Gespräche mit ihm führt. Denn auch er braucht Information über ihre emotionale Situation.

Leider gibt es diese Unterhaltungen heute kaum noch. Wir tendieren immer mehr dazu, den Tod und das Älterwerden zu verdrängen. In unserer postmodernen Welt arbeiten viele von uns diese Emotionen entweder alleine oder mit einem Psychologen auf. So verliert die Familie eine ihrer Funktionen - nämlich, ein Ort für herausfordernde Gefühle und Gedanken zu sein. Das ist sehr schade, denn damit geht großes Potenzial für Wachstum verloren - sowohl persönliches Wachstum als auch das als Familie. (Jesper Juul, derStandard.at, 17.3.2013)