Ein Regisseur, der sich Zeit lässt, um Bilder zur Entfaltung zu bringen: Robert Wilson gastiert wieder einmal in Berlin, diesmal mit dem ewigen Hit und Kassenknüller "Peter Pan".

Foto: Lucie Jansch

Claus Peymann gehört als Intendant des Berliner Ensembles in der Kulturszene der deutschen Hauptstadt längst zum Inventar. Was den Inszenierungen an seinem Haus mitunter an politischer, vor allem aber ästhetischer Bissigkeit fehlt, das liefert der Chef gelegentlich persönlich nach. Er poltert mit Lust als Talkshowgast. Er zofft sich als Mieter immer mal mit dem Eigentümer der berühmten Ostberliner Theater-Immobilie Rolf Hochhuth.

Er lästert gegen das Theatertreffen, dessen Jurys das BE beharrlich ignorieren. Und er lobt unverdrossen sich selbst als einen Intendanten, der sein Haus zu füllen versteht. Man kann das alles für Selbstinszenierung oder den Beginn von eskalierendem Altersstarrsinn halten. Aber er hat halt immer auch ein bisschen recht - meistens dann, wenn er den Gesamtkunstwerker Robert Wilson einlädt. Dieser war in den vergangenen Jahren eine sichere Bank für das plüschige Ex-Brecht-Theater am Schiffbauerdamm.

Auch bei Peter Pan ist das heuer so: Zuverlässig mault die Kritik und beklagt den Mangel an Tiefsinn, aber das Publikum rennt ihm die Bude ein und jubelt. Obwohl bei den gut gemachten 21 Songs von CocoRosie (wie sich die Schwestern Bianca und Sierra Casady nennen) das letzte Quäntchen Hemmungslosigkeit zum echten Rausschmeißer fehlt. Da können sich die famosen Musiker von The Dark Angels im Graben noch so ins Zeug legen.

Statt an der Musical-Temposchraube zu drehen, lässt sich Wilson Zeit für seinen poetischen Bilderzauber. In der eingedeutschten Version von Erich Kästner erzählt er James Matthew Barries Geschichte von dem Jungen, der nicht erwachsen werden will. Von den Kindern, die mit ihm aus ihrem Elternhaus ins sagenhafte Neverland davonfliegen. Von der Fee Tinkerbell und dem bösen Kapitän Hook, der den Peter herzlich hassliebt und zum Mann machen will. Was wie eine Missbrauchsdrohung klingt.

Wo Puppen tanzen

Das sieht selbst hinter der Mischung aus Licht und musikalisch durchgestyltem Bilderbogen-Kunterbunt so aus, als ob sich Hook in den Schoß von Peter Pan schmiegt. Da braucht es keinen psychologisierenden Hinterfragungsehrgeiz: Auch die traurige Song-Erkenntnis Peters, dass der Tod wohl das größte Abenteuer wäre, nimmt dem auf der Bühne oft triumphierenden Kindergeburtstag die Unschuld.

Doch nicht nur Peymann weiß, was er an Wilson hat. Das gilt auch umgekehrt. Für ihn ist das Berliner Ensemble längst eine Art deutsche Niederlassung. Die Schauspieler jedenfalls haben den ganzen Wilson-Barock im Schlaf drauf; da kann der Meister die Strippen locker lassen, an denen seine Puppen tanzen. Die machen aus den stilisierten Kostümen, den grellen Masken und steilen Frisuren, mit den aus dem Comic geborgten zackigen Bewegungen und Sprechblasenlauten allemal ein differenziertes Figurenpanoptikum. Hinter den Klischeemasken sind immer noch Individuen zu erkennen.

Der androgyne Sabin Tambrea hält nicht nur die traurige Einsamkeit Peter Pans hinter dem aufgesetzten Grinsen bereit, sondern (nach einer Gewöhnungsphase) auch einen Hauch Moon-Walker (Michael Jackson) oder die Rotzigkeit eines "lost boys" von der Straße. Mit liebebedürftiger Bosheit stattet Stefan Kurt seinen Kapitän Hook aus. Wiedererkennbare Schattenrisse mit Charakter - dazu bringen sie es alle. Wenn sie über die Bühne turnen, auf ihrem Schäfchenbett nicht schlafen können oder auf Schäfchenwolken fliegen - wie Wendy (Anna Graenzer) und ihre Brüder. Oder wenn die verlorenen Jungs ihrem Peter folgen und die finsteren Piraten ihrem Anführer mit der Dauerangst vor dem Tick-tack-Krokodil. Das ihn tatsächlich verschlingt.

Hinreißend vor allem, wie Christopher Nell im Spitzenkleidchen mit blonder Perücke und Zauberstab wie aufgezogen durch die Geschichte zappelt. Oder wie Georgios Tsivanoglou als Hundekindermädchen zum Erschrecken knurrt, um als Tigerlilly am Nixensee mit "Hände in die Luft" als putziger Dschungelrocker abzuräumen. Natürlich betreibt Wilson keine tiefenpsychologische Neubefragung, um den Hit für die Jüngsten zum Thriller für Ältere zu machen. Er tut das, was er kann. Er illustriert, musikalisiert, blättert in einem Theaterbilderbuch eine Seite nach der anderen um. Aber hochprofessionell und unterhaltsam. (Joachim Lange, DER STANDARD, 23.4.2013)