Zuerst eine andere Unterrichtskultur etablieren, dann Strukturen verändern, empfiehlt Jörg Dräger.

Foto: Bertelsmann Stiftung/Thomas Kunsch

STANDARD: Sie haben bei der Verleihung der mittlerweile fünften iv-Teacher's Awards der Industriellenvereinigung über den "guten" Pädagogen referiert. Was macht einen "guten" Pädagogen und eine "gute" Pädagogin aus?

Dräger: Bei einem guten Pädagogen lernen die Kinder viel, schnell und nachhaltig. Das klingt erst einmal trivial. Viel schwieriger ist es leider zu sagen, wie man ein guter Pädagoge wird. Denn das Offensichtliche wie die Dauer der Ausbildung oder die Berufserfahrung sagen allein nichts über die Qualität eines Lehrers aus.

STANDARD: In Österreich wurde viel Energie und Geld darauf verwendet, die Klassenschülerhöchstzahl 25 gesetzlich zu verankern. Welchen nachgewiesenen Effekt hat die Klassenschülerzahl?

Dräger: Erstaunlicherweise so gut wie gar keinen. Zumindest in bestimmten Grenzen. Sehr kleine Klassen von beispielsweise unter zwölf Kindern wirken positiv, sehr große von über 36 negativ auf das Lernverhalten und den Lernerfolg der Kinder. Aber dazwischen - ob 27, 25 oder 23 Kinder - sind kleinere Klassen teuer, aber ohne Effekt. Die Lehrerinnen und Lehrer fühlen zwar eine Stressentlastung, der Lernerfolg der Kinder verbessert sich aber trotzdem nicht.

STANDARD: Welche Rahmenbedingungen brauchen denn "gute" Pädagoginnen und Pädagogen?

Dräger: Leider streitet die Politik auf der Suche nach dem richtigen Rahmen meist um das Falsche. Die Frage der Schulstruktur - Gesamtschule, Gymnasium usw. - ist total überbewertet. Ebenso wie die Ausstattung der Klassenräume mit Computern oder eben die Schülerzahl pro Klasse. Was Kindern wirklich hilft, ist zum einen gute frühkindliche Bildung - also ein Kindergarten, in dem genügend qualifizierte Erzieherinnen arbeiten. Zum anderen hilft eine Ganztagsschule, die den Unterricht über den ganzen Tag verteilt mit sich abwechselnden Konzentrations- und Entspannungsphasen. Auch ist eine gute Schulleitung äußerst wichtig.

STANDARD: Sie sprechen von 20 Prozent "Kellerkindern". Was meinen Sie damit, und was muss ein Schulsystem für diese Kinder tun?

Dräger: Der deutsche Bildungsforscher Klaus Klemm hat diesen Ausdruck geprägt. Er meint die Kinder, die mit 15 Jahren noch nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können. Das trifft in Österreich und Deutschland auf jeden fünften Jugendlichen zu. Ich halte das für dramatisch, weil diese Kinder nur sehr wenige Chancen auf gesellschaftliche und berufliche Teilhabe besitzen. Zum Vergleich: In Kanada gilt das nur für zehn, in Korea sogar nur für fünf Prozent der Schüler. Neben frühkindlicher Bildung und Ganztagsschule brauchen wir dringend eine andere Art des Unterrichtens. Keine Sonderprogramme für die Schwachen, sondern eine neue Unterrichtskultur, die mit der Unterschiedlichkeit der Kinder besser umgehen kann. Davon würden alle profitieren, die Starken wie die Schwachen, weil jeder Schüler auf seinem Niveau und in seinem individuellen Lerntempo vorangehen kann.

STANDARD: Österreich und Deutschland verbindet in der Bildungspolitik eine starke Ideologisierung - aufgespannt zwischen den Polen Leistung und Gerechtigkeit, die als Widersprüche angesehen werden. Sind sie das?

Dräger: Ein gutes Bildungssystem ist beides - chancengerecht und leistungsfähig. Diesen Anspruch sollte jedes Land an seine Bildungspolitik stellen. Kanada etwa sagt ganz klar, dass es in der Bildung Leistung und Gerechtigkeit zugleich anstrebt. Die Ergebnisse zeigen, dass es möglich ist: Kanada hat mehr soziale Gerechtigkeit im Bildungssystem, und die Pisa-Ergebnisse sind besser, im Durchschnitt ebenso wie im Spitzenbereich. Bei uns haben Sozialdemokraten und Konservative einen ideologischen Graben ausgehoben, den wir möglichst schnell zuschütten sollten, weil er vom Wesentlichen ablenkt.

STANDARD: Der deutsche Soziologe Heinz Bude konstatiert "Bildungspanik" vor allem bei Eltern in der Mittelschicht, die fürchten, dass ihre Kinder bei zu viel "Vielfalt" verlieren könnten. In Hamburg wurde die geplante sechsjährige Primarschule per Volksentscheid verhindert. Was sagen Sie Eltern, die sagen: lieber in den sicheren Hafen Gymnasium?

Dräger: Gute Schule ist guter Unterricht, und der wird durch gute Lehrer gemacht. Das Problem ist, dass Bildungspolitiker zu oft glauben, durch Strukturveränderung die Qualität der Bildung besser zu machen. Strukturveränderungen wie das in Hamburg diskutierte längere gemeinsame Lernen können eine sinnvolle Konsequenz einer anderen Unterrichtskultur sein, aber niemals der Startpunkt. Die Veränderung der Unterrichtskultur ist ein längerer Prozess. Ich muss Vertrauen gewinnen bei den Eltern und durch Qualität überzeugen. Wenn Eltern sehen, die Lehrer können mit Vielfalt produktiv umgehen, und alle Schüler gewinnen dadurch, dann gibt es auch keine Bildungspanik. Werden nur die Strukturen verändert, dann verstehe ich die Eltern, die sagen: so nicht mit meinen Kindern.

STANDARD: Sie plädieren unter anderem für das Prinzip "Flipping the Classroom". Was bedeutet das?

Dräger: Wissensvermittlung funktioniert in der Schule häufig noch wie vor 100 Jahren: Vorn steht der Lehrer und erklärt etwas, die Schüler hören zu und üben dann zu Hause, jeder für sich. Anschließend geht derselbe Lehrer in die Parallelklasse und erklärt denselben Stoff noch mal. Und das Jahr für Jahr. Im Ergebnis verwendet er 80 Prozent seiner Zeit in der Klasse auf die Wissensvermittlung und 20 Prozent auf die individuelle Betreuung der Schüler. Flipping the Classroom meint, dieses Verhältnis umzudrehen. Mit digitalen Lernmaterialien, Videos, Lernspiele etc. können die Schüler allein das Wissen aufnehmen und anschließend in der Klasse üben, diskutieren, verarbeiten. Und der Lehrer hat 80 Prozent seiner Zeit für individuelle Betreuung frei. Dann würde Schule nicht nur noch Spaß machen, das würde den Kindern auch enorm viel bringen.

STANDARD: Gibt es Beispiele für solche digitalen Lernangebote?

Dräger: Etwa die Khan Academy, eine kostenlose Internetplattform, auf der unzählige Lernvideos und Aufgaben eingestellt sind. Salman Khan, ein ehemaliger Investmentbanker, hat da angefangen, seiner Cousine über das Internet Mathematik zu erklären. Aus dieser privaten Nachhilfe wurde das größte digitale schulische Bildungsangebot mit inzwischen mehr als 250 Millionen Downloads. Man kann sich Mathematik, Biologie, Geschichte erklären lassen, alles in kleinen Lerneinheiten, und hört nur eine angenehme Stimme, die Erläuterungen werden gezeichnet. Mehr nicht. Wer mehr Zeit braucht, drückt auf Wiederholung, besonders Begabte spulen schneller vor. Digitale Lernangebote entwickeln sich erst gerade so richtig. Wenn man sie klug einsetzt, helfen sie dem Schüler beim Lernen und geben dem Lehrer den Freiraum, sich mehr um den einzelnen Schüler zu kümmern. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 27.4.2013)