Szenenbild: "Das Kind“ – aus mehr als 360 Castings wurden 30 Laienschauspieler ausgewählt: Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Foto: Helmut Wimmer

Die Einladung zum Casting ist an "alle Bewohner der Stadt jedweden Alters" ergangen, so lautete der Aufruf zum neuen Stück der Theatergruppe "wenn es soweit ist". Kein Wunder, dass viele gekommen sind, denn mit dem Thema sind alle vertraut: Es ging um Erziehung – die "der Eltern und der Kinder", stand da geschrieben. Und: "Man muss nichts können."

Das stimmte nicht ganz. Wer an einem der Casting-Nachmittag im Jänner die kleine Probebühne gleich hinter dem Volkstheater betrat, musste zunächst ein Formular ausfüllen und dann bereit sein, vor einer Kamera über sich zu erzählen – möglichst offen auf Fragen der Regisseurin Jacqueline Kornmüller antworten: War ihre Kindheit einfach? Waren ihre Kinder einfach? Was ist ihre erste Erinnerung als Kind? "Ich war immer ein braves Kind", sagt eine mittelalte Frau in beiger Jacke zaghaft, "Zu Hause waren sie lieb, in der Schule ganz furchtbar", erzählt eine pensionierte AHS-Lehrerin über ihre heute erwachsenen Söhne. "Mein Großvater, der mich trägt", so eine Betriebswirtin über ihre erste Erinnerung.

Es folgen ein Vater von pubertierenden Zwillingsmädchen, ein russischer Junge, der von seinen Eltern sehr streng erzogen wird, und drei Geschwister, die von ihrer Mama, zum Casting geschickt wurden, obwohl sie selbst dazu wenig Lust haben. Zwei Stunden Casting eröffnen ein erstaunlich breites Spektrum des Themas – und der Ordner am Regietisch von Kornmüller wird von Tag zu Tag dicker.

365 Castings, ein Stück

365 Castings sind es am Ende geworden. Aus diesen haben Kornmüller sowie Produzent und  Schauspieler Peter Wolf bis Ende Februar 30 Menschen ausgewählt und mit diesen großteils Laienschauspielern ihre neue Produktion Das Kind erarbeitet. "Was geblieben ist, hat sich aus allen Castings, aus allen Bilder genährt", erzählen Kornmüller und Wolf unisono nach der Ensembleprobe in einem der Backsteingebäude in der Nähe der Wiener Gasometer über das aufwändige Auswahlverfahren. "Anfangs war", erzählt Kornmüller, "das Thema Erziehung noch sehr präsent, im Stück geht es sehr stark um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern." Sie interessiere das Katastrophale an dieser Situation, dass die Liebe von Kindern bei allem, was schiefläuft, unzerstörbar sei. Sprich: Wir alle sind mit unseren Eltern verbunden. Punkt. Belastung, aber auch Ressource.

Belastung und Ressource

Vom Bühnenbild, einem weißen Haus, ist auf der Probebühne Anfang April, zweieinhalb Wochen vor der Premiere, noch nichts zu sehen. Dafür stehen da zwei Betthälften, die im Laufe der Ensembleprobe zusammen- und wieder auseinandergeschoben werden. In einem liegt ein Junge, an der Bettkante seine Mutter, die von ihrer Sehnsucht nach den eigenen Eltern erzählt. An der anderen Betthälfte steht eine ältere Frau, schaut auf den Polster, so als würde da noch jemand drin liegen. "Es war so schwierig mit ihr", sagt sie, "wir brachten sie gegen ihren Willen im Heim unter. Bis zu ihrem Tod hat sie uns auf Trab gehalten!" Sie redet sich in Rage, wird wieder stiller. Irgendwann hätte sich die Mutter entschuldigt.

"Entschuldigung", hat sie gesagt: "Da konnten ich ihr alles verzeihen." Das Kind erzählt in Monologen – über Familienbande, auch sadistische Eltern und Hürdenläufe durch Kinderheime. Am Ende spricht ein kleiner Junge über den Tod seines Vaters, den er auch als erwachsener Mann noch immer nicht verwunden hat: "Das Gefühl, das Leben zu träumen, so als wäre das alles nie passiert." Beim Casting hätte es viele gegeben, die Kornmüller gesagt haben, wie das geht mit der richtigen Erziehung, mit Strenge und Grenzen. "Aber das zu erzählen", sagt sie, "hat mich nicht interessiert." Ein Glück. (Mia Eidlhuber, Magazin "Family", DER STANDARD, 30.4.2013)