Es rette sie, wer kann! Zahlreiche Pamphlete von Wissenschaftern und Public Intellectuals sehen die Universität in Not und rufen zu ihrer Rettung auf.

Ein Appell fehlt dabei selten: Nicht mehr so hetzen! Mehr Muße für mehr Muse! Der PacMan auf blinder Jagd nach ECTS-Punkten wurde zum Symbol einer Grundstimmung an den Unis: Studieren und Forschen als unmotivierte Aneinanderreihung von Scheinen, Abschlüssen, Drittmittelanträgen. Hauptsache, es geht rasch. Von einem Seminar ins nächste, von einem Projekt ins nächste.

Aber mitten in diesem Strudel der Eile gibt es auch Inseln. Das " Versatorium" rund um Peter Waterhouse ist so eine. Der österreichische Schriftsteller und Übersetzer sitzt mit ein paar Studierenden im Besprechungsraum am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft der Uni Wien. Es ist 10 Uhr, und sie haben die 90 Minuten, die eine Lehrveranstaltung üblicherweise dauert, bereits hinter sich. Doch die universitäre Zeitmessung sagt ihnen wenig zu. "Die Begrenzung in Seminarformate ist unfruchtbar, das hat nicht einmal mit Bologna zu tun, sondern mit der Uni überhaupt", sagt Waterhouse. Die ganze Idee der Konzentrationsspanne sei falsch. "Auch aus Müdigkeit und Erschöpfung können neue Sachen erwachsen." Waterhouse bietet an der Komparatistik ein Konversatorium an. "Diese Form ist am geeignetsten. Man hört schon: Hier gibt es kein Zentrum", erklärt er.

"Für mich ist von größter Wichtigkeit, den Prozess zu verlangsamen und auch mal eine Stunde lang über einen Satz oder ein Wort nachdenken zu können." Katharine Apostle, Studentin bei Waterhouse, stimmt zu: "Die Ferien sind super", sagt sie, "da können wir uns an der Uni richtig ausbreiten."

Wandlungsfähige Seminare

Nicht nur die Dauer der Lehreinheiten empfindet Waterhouse als ungeeignet, sondern auch die ganze Herangehensweise: "Ich muss meine Seminare im Vorhinein benennen, dabei ist das ganz unmöglich. Erst im Arbeitsprozess wird klar, worum es geht."

Da es im Konversatorium um Gedichte und Übersetzung geht, wurde bald das " Versatorium" daraus. Außerdem klinge darin das englische "versatile" (vielfältig, wandlungsfähig) an. Damit könne man sich identifizieren.

Apostle referierte hier vor zwei Jahren über ein Gedicht vom US-amerikanischen Lyriker Charles Bernstein. Die wenigen Zeilen beschäftigte die Gruppe ein ganzes Semester lang. Im darauf folgenden wurde daraus ein eigenes Seminar. "So stelle ich mir einen Entwicklungsprozess vor", sagt Waterhouse. "Aus dem Seminarraum haben wir Bernstein geschrieben und ihn nach Wien eingeladen", erzählt Miriam Rainer, ebenfalls Komparatistin im "Versatorium". Noch am selben Tag kam die Antwort, einige Monate später der Autor persönlich. Aus dieser Begegnung entstanden Lesungen und eine Publikation der gemeinsam angefertigten Übersetzungen. "Das ist der erste Kurs, in dem ich diese Verlangsamung erfahre", sagt Rainer. Das Schildkröte-versus-Hase-Prinzip funktioniert. Das "Versatorium" organisiert Lesungen, macht Studienreisen (etwa in die Türkei) und publiziert eine Buchreihe. "In der Langsamkeit steckt eine große Schnelligkeit", sagt Waterhouse.

Gedichte aus dem Labor

Das "Versatorium" ist nun auch ein Verein und sucht nach einem Atelier. Das Büro für Zwischennutzung der Stadt Wien wurde kontaktiert, doch viel Unterstützung gebe es nicht. Geplant ist, das Atelier für Interessierte zu öffnen und auch einen politischen Raum zu schaffen. In der Übersetzungsarbeit werde die Idee des Originals hinterfragt. Hier gewinne das Projekt eine gesellschaftliche Dimension. So arbeitet das " Versatorium" an Projekten gemeinsam mit Flüchtlingen. Doch auch für die tägliche Arbeit des Übersetzens sei ein Atelier nötig. "Wir brauchen Räume, wo die Arbeit liegen bleiben kann", sagt Waterhouse, "wie in einem Labor." Einem Chemiker würde es nie einfallen, nach eineinhalb Stunden seine Gerätschaften zu verräumen. "Auch unsere Geräte; Wörterbuch, Bleistift, Heft, sind hochaktiv." (Julia Grillmayr, DER STANDARD, 3.5.2013)