Clara Gallistl und Matthias Hütter mit ihrer Zeitschrift "über. morgen". Aus der flugblättrigen Kampfschrift des Audimaxismus ist ein Hochglanzmagazin geworden.

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Wien - Ein Ismus, ein revolutionärer Funke, Frustration. Das Bewusstsein, dass man mit Protest etwas verändern kann, oder die Einsicht, dass dieser zu nichts führt. Das Erbe des Audimaxismus ist umstritten. Zumindest die Vorlesungen und Diskussionen zum Thema zeigen, dass der Studierendenprotest von 2009 Spuren nach sich zieht. Und ein journalistisches Projekt ist der Besetzung des größten Wiener Hörsaal entsprungen: das über.morgen.

Inzwischen erscheint das Magazin als "Begleitheft zur Krise" und in einer Auflage von tausend Stück, finanziert durch Crowdfunding, auf Hochglanz.

Begonnen hat alles in den vielen und oft verworren organisierten Plena der audimaxistischen Basisdemokratie. Eine kopierte Doppelseite sollte Überblick über die Aktivitäten der Besetzung bringen. Kurze Zeit darauf wurde das Heft nicht nur intern, sondern auch vor der Uni verteilt, als Heute-Persiflage im gleichen Format und Stil, unter dem Namen Morgen. Dieser wurde aus Copyright-Gründen bald in über.morgen geändert. In den letzten vier Jahren erschienen acht Morgen und 24 über.morgen.

Nun gab es den großen Relaunch. Das flugblättrige Heft ist erwachsen geworden. Aber das finden nicht alle gut. "Wir werden oft immer noch als Plattform für Aktivisten wahrgenommen, die nicht aus journalistischer, sondern aus aktivistischer Perspektive schreiben wollen", sagt Matthias Hütter. Viele seien enttäuscht über den Schritt von der "Propaganda-Zeitschrift der Studierendenbewegung" zur "Schnittstelle verschiedener Positionen", erzählt der über.morgen-Schreiber, der derzeit auch Chefredakteur ist.

Die basisdemokratische Struktur ist dem Magazin geblieben. Die Chefetage wechselt zu jeder Ausgabe, die Texte werden von möglichst allen gegengelesen, es gibt lange Diskussionen bei den Redaktionssitzungen im Kaffeehaus.

Für die Gestaltung der kommenden Ausgabe sind nun Hütter und Clara Gallistl am Zug. In der Printversion sollen vor allem längere Textformen Platz finden; ausschweifende Wortinterviews und Reportagen, die auch literarischen Klang annehmen dürfen. In der vorliegenden Ausgabe wird "First Lady" Ursula Stenzel als Personifizierung des ersten Bezirks gezeichnet. Die über.morgen-Schreiber versuchen sich in einer Milieustudie über Snobs und überführen sich eigener Vorurteile. Und es gibt einen Reisebericht von einer behakenkreuzten Burg in Kärnten. Die subjektive Berichterstattung wird im über.morgen zum Programm gemacht. "Wir wollen keinen Pseudo-Objektivismus", sagt Gallistl. "Der Journalismus darf das 'Ich' nicht meiden", stimmt Hütter zu. "Gonzo-Journalismus" nimmt man bewusst nicht in den Mund: "Wir wollen uns keinen Stempel aufdrücken. Wir wollen einen unkomplizierten Zugang zu komplexen Themen."

Die Online-Ausgabe des über. morgen deckt in Blog-Format tagesaktuelle Themen ab. Auch hier wechselt die Redaktion regelmäßig.

"Das über.morgen ist wie ein lebender Organismus", sagt Hütter auch über die inhaltliche Arbeit. Die Redaktion ist zwischen 22 und 37 Jahre alt und vielfältig; etwa die Hälfte ist studentisch. Weniger systematisch als nach Gefühl und Gelegenheit streckt sie ihre Fühler nach interessanten Leuten und Geschichten aus.

Hütter schreibt derzeit an seiner Dissertation in Zeitgeschichte. Die Germanistin Gallistl will ihre Arbeit als Dramaturgin vertie- fen und studiert nebenbei Austrian Studies. Dem Vorwurf, über. morgen sei zum herkömmlichen "Bobo-Blatt" mutiert, halten sie klar entgegen: "Lesen hilft." (Julia Grillmayr, DER STANDARD, 3.5.2013)