Kongress tanzt: die Gruppe Candoco.

Foto: Hugo Glendinning

Wie kann eine Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, an ihren Turbulenzen wachsen? Wohl nur, indem sie lernt, durch gegenläufige Dynamiken erzeugte Konflikte in positive Entwicklungen zu übersetzen. Das war der Grundtenor des weltweit größten Tanzkongresses mit dem Titel Bewegungen übersetzen - Performing Translations in Düsseldorf. Dort befassten sich die rund 1000 Teilnehmer mit Perspektiven, die über eine kunstinterne Spezialistenversammlung weit hinausgingen.

Es war das dritte derartige Treffen von unter anderem Tänzern, Choreografen, Soziologen, Neurologen, Tanz- und Theaterwissenschaftern, Pädagogen und Philosophen in Deutschland seit dem ersten Tanzkongress 2006 in Berlin. Die Initiative dafür ging von der Kulturstiftung des Bundes aus; der nächste Kongress ist für 2016 geplant. Beiträge? Sie lieferten so einflussreiche Persönlichkeiten wie die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, der Philosoph Jean-Luc Nancy, die Ko-Gründerin des legendären New Yorker Judson Dance Theater Deborah Hay und die Ballettgrößen William Forsythe und Martin Schläpfer.

Den Auftakt des dem Kongress angeschlossenen Performanceprogramms machten im Düsseldorfer Schauspielhaus der kongolesische Choreograf Faustin Linyekula mit seinem großen Stück La création du monde 1923 - 2012 und die Hamburger Gruppe Ligna mit einem Bewegungschor vor dem Theater. Linyekula zielte auf das tief verwurzelte kolonialistische Denken der Europäer, und Ligna machte das Gefühl der Massenbewegung direkt für das Publikum erlebbar.

Das in sieben Themenfelder gefasste Diskursprogramm rückte Afrika und den Nahen Osten ins Blickfeld: In Deutschland befindet sich ein digitales Pina-Bausch-Archiv im Aufbau. In Ägypten dagegen, wo die Staatsmacht gegen das Ballett marschiert und gerade eine Ausbildungsstätte für zeitgenössischen Tanz geschlossen wurde, soll ein international verankertes Archiv die Tanzkultur retten. Gekehrt wurde aber auch vor der eigenen Tür, wo sich die Zensur durch Copyright- Bestimmungen anzumelden droht und wo der Automatismus des Ausschließens von älteren oder behinderten Tänzern nur mühsam abgebaut wird.

Österreich war durchs Tanzquartier Wien, also Dramaturgin Sandra Noeth vertreten. Sie leitete eine Diskussion mit europäischen und libanesischen Künstlern zur Handlungsfähigkeit des Körpers in Zeiten politischer Umbrüche. Die beiden Doyennes der deutschen Tanzwissenschaft, Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein, wiederum befassten sich mit Möglichkeiten von kulturellen Übersetzungen und mit den Grenzen der Verflechtung von Tanzkulturen. Erörtert wurde auch, wie Theorie und Kunst einander bereichern.

Tanz und Politik

Der britische Theaterwissenschafter Robin Nelson zeigte etwa, dass sich die geisteswissenschaftliche Forschung neu darstellt, wenn sie aus einer künstlerischen Praxis heraus betrieben wird. Und Brandstetter meinte in Bezug auf den Umgang mit kulturellen Unterschieden im Tanz: "Es gibt nicht den einen, sondern nur einen multiplen Körper."

In einer Diskussion mit Jean-Luc Nancy sagte Faustin Linyekula: "Tanzen ist eine Möglichkeit zu philosophieren und eine Art, Weltsichten zu verifizieren." Das Denken kann, so Nelson, auch im Augenblick des Handelns stattfinden. Im Tanz, zeigte der Kongress, wird das geprobt. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 11.6.2013)