Seit einigen Tagen erregt ein Interviewausschnitt viel positive Aufmerksamkeit, aber auch viel Kritik in den Sozialen Netzwerken. Darin spricht der US-amerikanische Schauspieler Dustin Hoffman darüber, wie ihm seine eigene Oberflächlichkeit bezüglich der Wahrnehmung von Frauen bewusst wurde - anhand seiner Rolle im Film "Tootsie".

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Der Ausschnitt ist Teil eines längeren Interviews, das Hoffman 1998 dem Amerikanischen Film Institut gegeben hat. Erst Ende 2012 hat es die Einrichtung in Teilen ins Internet gestellt, inzwischen ist es vor allem über die Internetseite "The Mary Sue" ins Klick- und Sichtfeld der Netzgemeinde gerückt. Seitdem wird auf Twitter, Facebook und in Blogs darüber diskutiert, ob hier ein heteronormativ geprägter weißer Mann die Scheuklappen seiner Wahrnehmung erkannt hat und welchen Stellenwert das für eine feministische Debatte über Schönheitsnormen hat.

Was hat "Tootsie" damit zu tun?

In dem 1982 erschienenen Streifen spielt Hoffman einen Schauspieler, der aufgrund seiner anhaltenden Erfolglosigkeit auf die Idee kommt, sich als Frau verkleidet um Rollen zu bewerben. Im Interview erklärt er, warum der Film, obwohl er zum Genre der Komödie gehört, für ihn nie eine Komödie war. Unter anderem bemerkt Hoffman dazu:

"Ich ging zu Columbia (Pictures) und fragte sie, ob sie ihr Geld für einen Make Up Test ausgeben würden, damit ich wie eine Frau aussehe und ob wir uns darauf einigen könnten, den Film nicht zu machen, wenn ich nicht wie eine Frau aussehen könnte. Irgendwie fühlte ich intuitiv, dass ich den Film nicht machen wollte, wenn ich nicht durch die Straßen von New York laufen könnte, ohne dass die Leute sagen 'Wer ist der Typ in dem Fummel' oder sich aus einem anderen Grund nach mir umsehen, so nach dem Motto 'Wer ist denn dieser Freak'. Als wir soweit waren und es uns auf dem Bildschirm ansahen, war ich schockiert, dass ich nicht attraktiver war. Ich sagte: Jetzt habt ihr mir das Aussehen einer Frau verpasst, nun macht eine schöne Frau aus mir – weil ich dachte, ich sollte schön sein. Wenn ich eine Frau sein sollte, wollte ich so schön wie möglich sein. Und sie sagten zu mir: Mehr ist nicht drin! (...)."

Anschließend erklärt Hoffman sichtlich emotional berührt, warum genau das ihn dazu gebracht hat, den Film unbedingt machen zu wollen:

"Ich denke, ich bin eine interessante Frau, wenn ich mich auf dem Bildschirm sehe und ich weiß, wenn ich diese Frau auf einer Party getroffen hätte, hätte ich mit ihr nie gesprochen, weil sie physisch nicht die Anforderungen erfüllt, von denen uns beigebracht wurde, dass eine Frau sie zu erfüllen hat, damit wir uns mit ihr verabreden. Es gibt zu viele interessante Frauen, bei denen mir die Erfahrung, sie kennenzulernen, verwehrt geblieben ist, weil man mich einer Gehirnwäsche unterzogen hat."

Um welche Beziehungen geht es?

Ich hege große Sympathien dafür, wie Dustin Hoffman über seine "Epiphanie" bezüglich der männlich besetzten Standards für weibliche Schönheit spricht und vor allem auch für die sichtbare Intention und Emotion, mit der er es tut. Inhaltlich habe ich damit einige Schwierigkeiten. Hoffmann vermischt an mehreren Stellen ein persönliches Interesse an einer Person mit einem dezidierten Interesse an einer romantischen oder gar sexuellen Beziehung.

Welche Form des Kennenlernens ist ihm denn dadurch, "gehirngewaschen" worden zu sein, verwehrt geblieben? Beklagt er die entgangenen Freundschaften, die Liebesbeziehungen oder die sexuellen Begegnungen? Ich hätte mir hier doch gewünscht, dass ein Mann einmal die Gelegenheit nutzt, um klarzustellen, dass die zwanghafte visuelle Festlegung auf gesellschaftliche Attraktivitätsnormen in ALL diesen Bereichen einen entsetzlichen Verlust darstellt. Männer tun nämlich gemeinhin gerne so, als ginge es nur um die sexuelle Komponente und da könne Mann sich ja schließlich nicht dagegen wehren, dass die Natur es so eingerichtet habe, dass ...(Fügen Sie hier einfach die üblichen Verweise auf absurde Klischees und Biologismen ein!).

Was passiert bei einer Gehirnwäsche?

Mein zweites Problem besteht darin, dass Hoffman seine Begriffswahl der Gehirnwäsche nicht weiter ausführt, obwohl es da erst so richtig interessant wird. Was meint er damit? Was ist passiert und kann man das abstellen?

Da ich Dustin Hoffman dazu nicht befragen kann und wir beide wie schon erwähnt der Gruppe privilegierter weißer Männer angehören, will ich versuchen, den Begriff "Gehirnwäsche" mit meinen eigenen Erfahrungen zu besetzen: In meinen frühesten Erinnerungen ist Freundschaft nicht geschlechtlich differenziert, sondern eher situationsbezogen (ein Ferienort, drei Kinder) oder Anweisungen befolgend ("Jetzt spielt ihr mal schön!"). Diese Wahrnehmung verschiebt sich mit dem Eintritt in die Schule. Spätestens ab diesem Zeitpunkt erinnere ich mich, jede Beziehung zu Mädchen als zweckgebunden empfunden zu haben – obwohl der konkrete Inhalt dieses Zweckes zunächst vollkommen diffus blieb. Mit Jungen war man eben befreundet. Mit Mädchen war man befreundet, weil ... ja warum eigentlich? Und warum waren die miteinander befreundet?

Mangelnde Rollenvorbilder

Dieses leere Unverständnis wurde in den folgenden Jahren stetig mit geschlechtsspezifischen Klischees und statischen Rollenbildern besetzt, bis diese sich schließlich zu zementieren begannen: Die hübsche, wehrlose Prinzessin und der heldenhafte Prinz. Nichtstuende Kichererbsen und forsche Macher. Hässliche Enten, umschwärmte Schwäne, blöde Zicken und frühreife Früchtchen. Bücher, Medien, neue Bezugspersonen – an allen Ecken und Enden wurde die bis dahin allenfalls unterschwellige Klischeewahrnehmung ergänzt, beschrieben und bebildert. Freunden musste imponiert, Erwachsenen nachgeeifert werden. Es gab keine Rollenvorbilder, die sich den gängigen Mustern erfolgreich widersetzt hätten, keine Altersgenossen, die in Mädchen nicht "das andere Geschlecht" sahen und keinen Wunsch in mir, auf irgendeine Weise gegen den Strom zu schwimmen.

Irgendwann war mein männlicher Blick auf das Weibliche so kultiviert, dass ich Mädchen nicht mehr als Menschen gesehen, sondern als geschlechtliche Wesen angestarrt habe. Zugleich entwickelte ich einen toten Winkel. Alles, was nicht den Kriterien meines Starrens entsprach, blieb für mich unsichtbar, rückblickend beinahe inexistent. Geändert hat sich mein Blick jedoch nicht schlagartig durch ein Hoffmansches Erdbeben, sondern durch viele kleine Erschütterungen. Durch starke Frauen, die mein Starren oder meinen Blick ins Leere bemerkten und sich nicht auf Äußerlichkeiten reduzieren ließen. Durch männliche Vorbilder, die endlich doch einmal am Horizont auftauchten. Und durch gute Bücher. Ganz frei kann ich mich davon jedoch wahrscheinlich nie machen. Es ist wie etwas, das wieder und wieder ins Auge fliegt und ständig herausgerieben werden muss.

Der Zwang auf etwas zu starren

In diesem Sinne berührt es mich, Hoffman dabei zuzusehen, wie er um Fassung ringt, wenn er den Moment beschreibt, als ihm dämmerte, dass Männer mit so viel Blindheit geschlagen sind, weil sie sich unentwegt auf etwas zu starren gezwungen sehen, das in unzähligen Situationen vollkommen unerheblich ist. Gleichzeitig ist das auch ein wesentlicher, berechtigter Kritikpunkt an dem Interviewausschnitt: Hoffman beklagt seinen persönlichen Verlust und erweckt damit bei BetrachterInnen den Eindruck, dieser hätte gleiche wenn nicht gar größere Dimensionen als der von Frauen, die in einer männlich geprägten Gesellschaft systematisch ignoriert werden, nur weil sie nicht den von Männern vorgegebenen Schönheitsstandards entsprechen.

Dennoch ist dies auch ein Verlust für Männer. Und daher lohnt es sich auch, dieses Interview zu sehen - gerade für Männer.

Mein Tipp: Einfach anschauen und anschließend die Gedanken schweifen lassen: Wen und wie viele Menschen habe ich auf die Art wohl schon verpasst? (Nils Pickert, dieStandard.at, 17.7.2013)