Stefan Herheim: dreimal zum Opernregisseur des Jahres gekürt, bis 2021 ausgebucht.

Foto: Salzburger Festspiele/ Karl Forster

STANDARD: Als Sie hier zu proben begannen, sagte Alexander Pereira voll der Bewunderung, Sie könnten den Sängern jeden einzelnen Ton vorsingen. Stimmt das?

Herheim: Nein. Ich könnte zwar spielend, aber niemals singend für einen Sänger auf der Bühne einspringen. Aber ich kenne das Stück sehr gut - das ist die Voraussetzung, um es überhaupt inszenieren zu können. Ich entwickle eine Konzeption immer aus der Musik heraus. Jeder Schritt ist musikalisch gedacht; die Dynamik, die stilistischen Mittel, die Fallhöhe und der Ablauf einer zu inszenierenden Handlung können nur aus der Partitur wachsen und zu theatralem Leben erweckt werden.

STANDARD: Sie gehen also, wenn Sie ein Regiekonzept entwickeln, von der Musik und nicht vom Text aus?

Herheim: Natürlich lese ich zunächst den Text sehr gründlich. Dann aber beginnt erst die richtige Aneignung der musikalischen Textur, bei der man allein feststellt, was die Figuren wirklich denken, fühlen und sagen und was das Werk wirklich thematisiert. Sprache bekommt durch die Musik eine ganz andere Bedeutung - eben eine Bedeutung jenseits von Sprache. Musik kann nicht lügen, auch wenn sie lügt! Grundlage einer Analyse kann daher nur die Partitur sein, deren Text nur ein Bestandteil davon ist. Man muss das Gesamte verinnerlichen, wissen, warum etwas so und nicht anders orchestriert ist, ehe man zu konzipieren und zu proben beginnt. Dabei beginnt man sich mit dem Komponisten und dessen Anliegen zu identifizieren. Ohne diese Assimilation mit dem Schöpfer kommt man einem Werk nicht auf die Spur.

STANDARD: Wie sehen Sie Wagners Intentionen bei den "Meistersingern"? Wagner selbst lehnte ja ab, sie als komische Oper zu sehen.

Herheim: Er hat es nicht abgelehnt, er nannte sie zunächst Große Komische Oper, dann nur Komische Oper und letztlich nur mehr Oper. Das ist auch folgerichtig, denn eine gute Komödie ist letztlich eine verkleidete Tragödie, keine Posse. "Die Meistersinger" sind eine  höchst shakespeareianische Angelegenheit, stark beeinflusst von dessen "Sommernachtstraum", der Wagner in Wielands  deutscher Übersetzung mit dem Titel "Ein St.-Johannis-Nachts-Traum" geläufig war.

STANDARD: Sind "Die Meistersinger" ein heiterer Kontrapunkt, ein Kommentar zu "Tannhäuser"?

Herheim: Wagner wollte seiner romantischen Tragödie zunächst ein romantisches Satyrspiel folgen lassen. Aber es wurde sehr viel mehr als ein Kommentar. Es ist Welttheater im besten Sinne.

STANDARD: Stimmen Sie mit dem Dirigenten Ingo Metzmacher überein, der gesagt hat, er liebe zeitgenössische Komponisten, weil man sie zu ihrem Werk befragen könne?

Herheim: Natürlich. Es ist eine Tragik unseres Zeitalters, dass wir die Klassiker des Repertoires immer wieder reproduzieren, statt Neues zu schöpfen. Man muss viel Staub wischen im eigenen Gehirn, viele Vorurteile, Traditionen und Konventionen, die sich den alten Werken aufgedrängt haben, wegputzen, um eine klare Sicht darauf zu bekommen, was sie damals, als sie geschrieben wurden, an sich hatten. Als Regisseur betreibt man eine Art Übersetzungsarbeit und befindet sich immer auf Zeitreise. Statt Neues zu produzieren und rezipieren, das unsere eigene Zeit radikal infrage stellt, flüchten wir scheinbar allzu gern in die alte, vermeintlich hehre und überkonditionierte schöne Kunst, um uns selbst zu entkommen. Der dumme Begriff des sogenannten Regietheaters bezeichnet den oft missverstandenen Versuch, dieses anachronistische Verhältnis zu korrigieren und den Spieß konstruktiv umzudrehen.

STANDARD: Genau das verhandeln "Die Meistersinger": die grenzüberschreitende Rolle der Kunst und des Künstlers.

Herheim: Und die Art und Weise, wie Leben und Kunst sich bedingen, eins sein müssen, um menschlich, wahr und heil zu sein.

STANDARD: Klingen für Sie die "Heil"-Schreie, die Betonung auf die "deutsche Kunst", die "Welschen", die die Kunst gefährden, in "Die Meistersinger" nicht unerträglich?

Herheim: Natürlich hört und empfindet man diese Heil-Rufe nach den Reichsparteitagen in Nürnberg ganz anders als zuvor. Das ist ja die Frage schlechthin bei diesem Werk: Wie geht man damit nach seiner wirksamen Instrumentalisierung durch die Nazis um? Für mich war klar: Ich kann diese fünf Stunden Oper kaum ertragen und nicht inszenieren, wenn ich keine unmittelbare Identifikation mit den Figuren aufbauen und ihre Liebenswürdigkeit vermitteln darf, sondern mich in einen bodenlosen Schuldkomplex verstricke, vor dessen Hintergrund Wagners Nürnberg zum Szenario eines realen Albtraums statt eines suggestiven, koboldhaften Johannisnacht-Traums wird. Ich kann diese Musik nicht lieben und ihr zum Leben verhelfen, wenn ich die ganze Zeit Adornos Urteil im Kopf habe. Deswegen habe ich mich in die politische Situation des 19. Jahrhunderts hineinversetzt. Wagner wuchs in einem noch nicht existierenden Deutschland auf, wurde in einer Epoche voller Widersprüche und Spannungen zwischen Revolution und Restauration zum Komponisten. Diese frühe, national-romantische, patriotische Deutschtümelei war völlig anders motiviert und wirkte anders als jene der Nazis. Es geht um Wagners Utopie: Er wollte sein Publikum in eine Zukunft führen, die erst in, durch und mit der Kunst bzw. seiner Kunst ihre Erfüllung finden kann und von der er selbst erfüllt war. Die brisante Frage ist bei Wagner immer die des menschlichen, allzu menschlichen Wahns und wie man mit ihr umgeht.

STANDARD: Können Sie den fürchterlichen Antisemitismus Wagners ausblenden?

Herheim: Natürlich ist auch Wagners Antisemitismus grässlich, zumal er sich als Künstler zu legitimieren versuchte, indem er jüdische Musik verteufelte. Aber man darf sein Werk nicht mit Goebbels' Propaganda verwechseln. Wagner war Antisemit, war ein zerrissener und in tausend Widersprüche verstrickter Geist. Zugleich war er ein großer Lebens- und Menschenkenner, der sich mitgeteilt hat in einer Weise, die großzügiger, idealistischer, assoziativer, an- und aufregender kaum sein könnte. Und die uns nach wie vor beflügelt, weil sie die Schattenseiten des Lebens und die der Kunst in uns auf ambivalenteste Weise zum Klingen bringt.

STANDARD: Sie haben in Salzburg mit Mozarts "Entführung aus dem Serail" debütiert: Wagner oder Mozart – wohin schlägt das Pendel eher?

Herheim: Gott sei Dank muss man da keine Entscheidung fällen. Das wäre grauenhaft. Das Schönste ist immer das, woran man sich gerade reibt. Aber für die sachliche Nullstellung und den inneren Ausgleich ist Mozart nach wie vor unverzichtbar für mich. Würde ich nur in Wagner oder in der Romantik schwelgen, wäre ich vermutlich ein höchst deprimierter Mensch.

STANDARD: Nach Salzburg inszenieren Sie in London Verdis "I vespri siciliani", bis 2019 sind Sie ausgebucht ...

Herheim: ... mittlerweile bis 2021 ...

STANDARD: ... Wie schaffen Sie es, zwischen den Produktionen Ihren Kopf freizubekommen, abzuschalten?

Herheim: Man braucht Zeit zum Leben, zum Faulenzen und Runterkommen, muss seinen eigenen Dämonen im Keller begegnen, das ist in den letzten Jahren zu kurz gekommen: nicht, weil ich so viel Neues mache - ich mache maximal drei neue Stücke im Jahr -, sondern die Wiederaufnahmen und Koproduktionen an den verschiedenen Häusern verschlingen viel Kraft. So bin ich ein bisschen in die Bredouille gekommen und hatte nicht genügend Zeit, mich zu erholen. Nach London mache ich aber eine lang ersehnte, längere Auszeit.

STANDARD: Sie waren dreimal Regisseur des Jahres: mit "Don Giovanni", "Parsifal" und dem "Rosenkavalier". Wie wichtig sind Ihnen solche Auszeichnungen?

Herheim: Ich war schon als Kind total vom Musiktheater infiziert, und für mich ist das Dasein als Opernregisseur ein Riesenprivileg und wie das Leben selbst ein Segen, der hin und wieder mal aber auch zum Fluch werden kann. Denn ich fordere sehr viel von mir selbst, bin ein Perfektionist und weiß genau, was ich erreichen muss, um mich selbst ertragen zu können. Ich bin mein eigener Richter und jenseits des Theaters ein ziemlich demütiger, ruhiger und uneitler Mensch. Dennoch ist nichts schöner als ein begeisterungsfähiges Echo. Es ist wichtig, verstanden und geschätzt zu werden.

STANDARD: Steigt der Druck, die Erwartungshaltung?

Herheim: Druck ist da, aber man macht ihn sich hauptsächlich selbst. Die Erwartung, die ich an mich habe und der ich mit aller Mühe gerecht zu werden versuche, wächst immer aus dem Werk selbst und aus der Chance, etwas Einmaliges zu gestalten. Man ist bereit, bis ans Ende der Welt zu gehen, um dieses Wunder, von dessen Wirkung man selbst getroffen und inspiriert ist und von dem man lernt, das Leben zu lieben, entsprechend wundervoll weiterzugeben. Das kommt mir manchmal wie ein Auftrag von oben vor. Und so ist das Musiktheater mein Tempel. (Andrea Schurian, Langfassung, DER STANDARD, 2.8.2013)